Freitag, 7. November 2014

AUTO. Logik.Lüge.Libido




Autobiographische Fiktionen



von


J.S. Pivecka
www.gleisbauarbeiten.blogspot.com






Vorrede


Wir (pluralis majestatis) versuchen uns an einer chronologischen Komposition. Die Jahreszahlen geben nur den Rhythmus vor. Der wird nicht durchzuhalten sein. Basteleien haben wir früher verachtet. Jetzt kommen wir darauf zurück. Nichts wird umsonst gewesen sein. Es ergibt sich daraus das (Auto-)Biographische Material einer nichtdepressiven Hysterikerin. Auch das Krankheitsbild ist hundert Prozent achtziger Jahre Retro. Keine Spur von Ironie. Wir sind total ernsthaft bei der Sache und haben sogar schon eine geile kleine Vorrede formuliert:


Kollektive Autorschaft kann unter den Bedingungen virtueller Fertigkeit und Fertilität von jeder Frau fingiert werden. So auch hier. Zweifelsfrei steckt eine ausgeklügelte ästhetische (Blog-)Theorie dahinter (oder sonst was). Eine hat sich ausgeschwiegen während aus der B.R.D. Deutschland wurde. Dabei aber immer viel rumgeschrien, selbstverständlich. Sie kennen doch auch so eine: mittelalt, mittelschlau, mittelreich. Dann schreibt die sich eine fiktiv-giftige Autobiographie gegen die Verdauungsbeschwerden. Was selbstverständlich misslingt. Alles gelogen. Ihre Erbärmlichkeit tarnt sie durch Wortspielereien und politische Radikalismen. Wie Frauen eben so sind. Weisen Sie ihr die Widersprüche nach. Das dürfte Ihnen nicht schwer fallen.
Geboren: 1965
Irgendwo in der ländlichen Provinz im Westen Deutschlands
Liiert, studiert, verheiratet, Mutter zweier Knaben
Besessen von Sex und Gewalt, träumt von blutigen Exzessen und lesbischen Spielen (soviel fürs Marketing!)
Trotz allen Hohns: eine tragische Existenz (ohne Fallhöhe allerdings)
Sie werden von Trauer lesen, von Körpern und Schmerzen, Selbsttötung und Gebären, Wut und Hoffnung, Aufbrüchen und Abstürzen, Versprechen für die Ewigkeit. Drunter tut sie´s nicht. Trotz allem."






All die Jahre (1989 – 2009)


In der Sylvesternacht von 1989 auf 1990 stürzten sie schwarzrotgoldenen Wackelpudding vom Balkon. Noch einmal waren in diesem lauen Winter Weihnachtsbäume aus den Einkaufszentren geklaut worden. Anderntags wurde Georg von einigen sehnsüchtig erwartet, während er auf ein Taxi wartete, das nie kam. Im Imbiss am Zentralfriedhof spiegelten sich ihre grünlichen Gesichter im schmierigen Kühlschrank hinter dem Tresen. „The Fall“ rührten bis zur Bewegungslosigkeit. Es ging das Gerücht, das Volksbildungsheim werde abgerissen. Es wurde aber nur ein Multiplex-Kino daraus. Jahre später.
Nostalgie ist Scheiße. Schuhkartons voller Fotos, weggeschlossen, immer nur zu den Umzügen hervorgeholt, weitergeschleppt. Aber dann kommen sie doch: Erinnerungen an weiße Tanzschuhe im meterhohen Schwarzwald-Schnee; Jesus am Kruzifix geschmückt mit einem Cannabiszweig; Fischstäbchen im toten Ofen; Wasserfälle, die zu Eiszapfen gefrieren; Basel. Art Basel; Norweger-Pullover; Junta. Junta; Peace. Piece; Richter Roy Bean und Lily Langtry. Bis zu Heideggers Hütte schafften wir´s nie. IRRE.
Es war offensichtlich, dass die Band LULA HENNE nicht bleiben konnte, als die Bundesrepublik starb und Deutschland entstand. Alle Hasslisten waren vergebens. Stattdessen schmiedete  man Heiratspläne, Blutkonserven wurden angelegt, eine letzte Splatter-Film-Party (Kopfschmerz-Hansa-Pils in der Badewanne) gefeiert. Alles befand sich in Auflösung. Betrunkene Küsse im Flur.
„Bier zahlt die Freundin“ – doch die Zahlungen blieben aus. Abschiede, die nicht erklärt wurden, waren für immer. „Man sieht sich.“ Nicht mehr. Bloß einmal noch kamen sie, um der künftigen Ehefrau die Fresse zu polieren: "Glück ist eine junge Braut, der man in die Fresse haut." Dann stellten sie ihr ein blindes Huhn, ausgestopft, vor die Haustür. Zwanzig Jahre bewahrte sie es auf, staubig, hässlich, gehasst, geliebt.
ZUHAUSE
Zwei trennten sich. Und zwei gaben sich Versprechen für die Ewigkeit. Unbedingte kantianische Pflichten. Bedingte auch. Weil wir es wollen. Alles schien vorbei: Die Ankunft im Büroalltag, Krankentransporte, Hauskredite, Taufen, neue Lieben, alte Kriege, zuletzt: Establishment, Designer-Kostüme, Gourmet-Rezepte.
LULA ließ die Massen allein mit ihrem Untergang im Neuen Deutschland. Erich starb. Oskar kam. Keiner nahm die VOLKER an die Hand. Alles schien verloren. Keine Hoffnungen mehr, nur Abzahlungsraten. Man sorgte sich, liebte den Herrn und versorgte die Kinder.


Freut Euch nicht zu früh. LULA erwacht nicht mehr. Doch jene Vision eines neuen Mediums, die in ihren Liedern vor 1989 aufblitzte, könnte sich verwirklichen auf unerahnte Weise durch Bloggen und Twittern. Dass sich etwas zu Gehör und zwischen die Zeilen drängt, das nicht gefiltert wäre durch Macht und Genie, Wahn und Mann.
GENDER-POLITICS
1989 wusste LULA nicht um ihr Geschlecht. Sie, die keine Frau, sondern viele war, gab sich unbewusst einem männlichen Blick hin. Liebe. Lüge. „Ich liebe dich auch.“ Aber ICH ist nicht da. Spricht nicht. Hält sich in der Tiefe verborgen. Liebt noch nicht. Liebt nicht mehr. NICHT-ICH liebt Dich.


Wie das klingen wird, wenn Lula eine Frau ist, das weiß man nicht. All die Stimmen, die sie liebte und die sie liebten, werden nicht wieder klingen. Jetzt muss, was LULA HENNE nicht mehr ist, neue Lieder singen. ICH? Nicht. Sie.








Monaden (1982)
Von Anfang an war Sex ein Thema. Wir waren 17. Nach ein paar Wochen fragte ich ihn: „Hast Du schon mit jemandem geschlafen?“ „Mit Dir!“ Genau, wir hatten zusammen in seinem Zelt übernachtet. Fast jedes Wochenende waren wir trampend unterwegs:  München, Köln, Hamburg. Wir wollten sehen, was gespielt wurde in den Bars und Theatern der großen Städte, weg von der Kleinkunst der Provinz, an die wir nicht glaubten. Songs for Drella: „Growing up in a small town...“ Aber diese Platte erschien erst einige Jahre später. Als Warhol schon tot war. Bloß raus hier. Nie hatten wir uns berührt. Aber geschlafen, nebeneinander, miteinander, den Atem des anderen im Nacken gespürt. „Das ist der blödeste Ausdruck überhaupt für Sex. Weil man eben nicht schläft...“ Wir einigten uns darauf nie mehr so darüber zu reden, stattdessen Klartext: Sex haben, ficken, bumsen. Wir waren beide noch jungfräulich. Konnten uns gestehen, wovor man Angst hat: Männer, dass sie keinen hoch kriegen, Frauen, dass man gar nichts dabei fühlt. „Was macht dich an?“ Wenn eine Frau den Kopf in den Nacken legt, die Brüste rausstreckt, wenn sie sich räkelt, sich dehnt. Wenn ein Mann sich vorlehnt, mich an die Wand presst, sehr hart und heftig küsst. Am besten wäre beim ersten Mal jemand, für den man keine Gefühle hat, purer Sex.
Obwohl wir dauernd über Sex sprachen, redeten wir nie darüber, warum wir einander nicht anfassten. Für alle anderen waren wir „das Paar“. Wir standen in den Pausen zusammen. Nach der Schule gingen wir zu ihm oder zu mir. Wir redeten, wir hörten Musik, wir schwiegen. Mike war der erste Mensch, der mich so sehr anzog, dass ich meine Schüchternheit überwand, weil ich ihn unbedingt kennenlernen wollte. Er ist klein, nicht viel größer als ich. Ein schmaler Kopf auf einem schmalen, zarten Körper, ein feines Lächeln, die klügsten Augen. Am schönsten aber sind seine Hände. Es sind die Hände eines Spielers, lange, geschmeidige Finger, Fingernägel wie rosige Muscheln vom Strand. Auch zwanzig Jahre später sind es Mikes Hände, die mich fesseln. Ich sitze immer noch gern still in einem Raum mit ihm, ein Buch lesend, ab und zu aufschauend, seine Finger beobachtend, wie sie die Saiten zupfen.
Damals fragte ich Freunde nach seiner Adresse, ging nach der Schule vorbei, klingelte. Er kam zur Tür, sah mich, lächelte, erstaunt und erfreut. Ich sagte: „Wir sind im selben Musikkurs. Ich will dich kennenlernen.“ Was für ein blöder Anfang. Aber er sagte nicht: „Spinnst Du?“ Er sagte: „Ich wollte dich auch schon die ganze Zeit ansprechen.“ Ich ging rein in sein winziges Zimmer und ich dachte die ganze Zeit: „Hoffentlich kapiert er, dass ich nicht verliebt in ihn bin.“ Wir redeten an diesem Nachmittag über John Cale und den Zauberberg, aber auch darüber wie schön es ist, früh morgens noch vor Sonnenaufgang im See zu schwimmen. Dort trafen wir uns am nächsten Tag und an vielen Tagen und dann jeden Tag und im Winter gingen wir zur Burg hoch und kletterten über die Absperrung in die Ruine, saßen auf dem Turm und blickten auf die Stadt hinunter, die uns beiden zu klein war. Wir hingen einfach immer zusammen rum und waren ein Paar, aber ohne Sex. Wir erzählten uns von unseren unglücklichen Lieben und trösteten uns gegenseitig darüber hinweg, dass wir uns immer wieder in Idioten verliebten.
Manchmal dachte ich darüber nach, warum wir uns so nahe kommen konnten und doch nie etwas passierte. Er findet mich als Frau nicht attraktiv, dachte ich. Und ich fragte mich, was ich selbst empfand. Wenn ich Mikes Körper ansah, dann fand ich ihn schön, aber ich spürte kein Verlangen nach ihm. Sein Körper bewegt sich tänzerisch, fließend, nichts Ruckartiges oder Steifes haftet ihm an, immer aber etwas leicht Zögerliches, Unentschlossenes, stets die Möglichkeit des Rückszugs offen haltend. Es gab Momente, wenn ich früher erwachte als Mike, in denen ich ihn betrachtet und die Sehnsucht spürte, mit den Fingern die Linien seiner Wangen- und Kieferknochen nachzufahren. Aber ich tat es nie.
Nur einmal sprachen wir darüber. Wir waren nach Heidelberg getrampt, um eine gemeinsame Freundin zu besuchen. Sie wohnte im Studentenwohnheim. Bei unserer Ankunft wurden in der Wohnküche Plakate und Bettlaken bemalt. Parteigründung: S.P.R.A.K. (Separatistische Partei Rechtloser Anarchisten gegen Karrieristen). Große Sache, Demo ab acht auf dem Dach des Wohnheims. Joints kreisten. Bier floss in Mengen. Für Separatismus jeder Art waren Mike und ich jederzeit zu haben. Schluss mit der Kameraderie. Jeder eine Monade. („Monade“ war in diesem Monat unser Lieblingswort.) „Komm her, meine Monade.“, schrie Mike und zog mich an sich. „Mein Monadismus.“, hauchte ich und küsste ihn auf die Wange. Wir kamen richtig in Fahrt. Die Mischung aus Hasch und Alkohol versetzte uns in Siegesstimmung. Wir kletterten aufs Flachdach, jemand stellte Boxen auf, psychedelische Musik, Flaschen kreisten. „Peace für die Monaden“, „Recht auf Abgrenzung“, „Schönheit vor Geld“. Unsere Freundin Heike küsste sich durch die Reihen. Blieb schließlich an einem Punk-Typ mit grünem Iro hängen. Mike und ich lagen flach auf dem Bauch nebeneinander. „Siehst Du?“ „Ich sehe alles.“ Zwei Stunden später. „Siehst Du noch?“ „Ich sehe alles.“ Irgendwann wurde es dunkel. Irgendwann lief keine Musik mehr. Irgendwann waren alle Flaschen leer. Irgendwann waren wir allein. „Siehst Du noch?“ „Ich sehe nix mehr.“ Ich gab Mike einen Klaps auf den Hintern. „Lass uns runterklettern. Wird kalt hier.“ Wir halfen einander beim Abstieg über den Balkon in Heikes Zimmer, wo wir unsere Isomatten und Schlafsäcke ausgerollt hatten, tasteten uns in der Dunkelheit vor, rollten uns ein.
Und dann ging es los. „Gibs mir.“ „Ich mach dich fertig.“ Stöhnen. Keuchen. Schreie. „Fick mich.“ Heike hatte den Iro mitgenommen. Und trieb es mit ihm auf der Matratze, wenige Zentimeter von Mike entfernt. Ich rollte mich weg. Was jetzt? So tun, also ob ich schon schlafe? Die beiden wurden lauter und heftiger. Rollten auf Mike zu. Der rückte näher an mich heran. Will er was von mir? Wird er jetzt auch geil? Seine Hände auf meinen Schultern. Zart. Seine Mund an meinem Ohr. Was will ich jetzt? „Monade. Lass uns hier rausgehen.“
Wir schleichen uns in unserer Unterwäsche aus dem Zimmer, aus dem Wohnheim, klettern den Hügel hinauf, setzen uns. Morgengrauen. Unsere Knie berühren sich. „Scheiße.“ „Ach was.“ „Ich habe einen Augenblick überlegt...“ „Was?“ „Ob ich dich verführen soll, ob wir...“ „Ich auch, ich habe überlegt, ob ich mich rumdrehe, in deine Arme...“ „Und?“ „Und?“ „Du findest mich als Frau nicht anziehend, oder?“ „Quatsch.“ „Zu kleine Titten.“ „Gerade richtig – eine Handvoll.“ „Und warum dann...?“ „Bin ich dir zu klein? Nicht kräftig genug?“ „Ich mag deine Zartheit.” „Warum dann...?“ Gleichzeitig sagten wir es: „Ich will dich nicht verlieren.“
Einige Wochen nach dem Besuch in Heidelberg hatten wir beide unseren ersten Sex. Ich kann mich nicht einmal an den Namen des Kerls erinnern oder an sein Gesicht. Es war nicht toll, aber auch nicht schlecht. Mit den nächsten wurde es besser.
Wir tun es nicht. Eine Geschichte ohne Happy End. Ohne Ende.




Der Feind ist in der Burg (1970)
„Der Feind ist in der Burg.“, schrie der Pfarrer am Tischende.
Vor Schreck ließ ich die Gabel fallen. Mama sah mich von schräg gegenüber mahnend an.
Mitten unter uns ist Jezebel. In einen jeden von Euch fährt er, wenn wir hier nicht fest bleiben.“
„Mama...“, rufe ich quer über den Tisch. Wir Kinder sitzen ganz unten, unserem Alter nach. Weil ich auf meinen kleinen Bruder aufpassen soll, bin ich unter den Jüngsten. Mama legt die Finger an die Lippen.
Er vergiftet unseren Trank, die Sünde fährt in unsere Herzen.“
Ängstlich starre ich auf den roten Traubensaft in meinem Glas. Gift. Er will mich vergiften. Wer? Entschlossen lege ich das Besteck auf den Teller, ignoriere Mamas Blicke, stehe auf und gehe um den ganzen Tisch herum. Mama schaut  entschuldigend nickend in all die Augen rund um sie. Ich muss jetzt wissen, wer uns vergiften will. Mama soll das nicht trinken und Papa auch nicht und Gregor nicht. Wir können nach Hause gehen und selbstgekelterten Apfelsaft trinken, wenn uns hier jemand vergiften will.
Ich stelle mich neben sie, greife ihr in die blonden Locken und ziehe ihr Ohr zu mir heran. „Mama, warum will uns jemand vergiften?“ Mama lächelt gequält. „Ach, s´ Anne, will immer alles ganz genau wissen.“, sagt sie zu ihrer Nachbarin. Sie zieht mich auf ihren Schoß. „Das verstehst du noch nicht, Anne. Es geht ums Abendmahl, was die Großen in der Kirche nehmen. Das kennst Du doch.“ „Der Pfarrer sagt, es ist Gift in meinem Saft.“ „Das meint er nicht so. Guck, er meint, wir müssen fest dran glauben, dass wir den Leib Jesu essen und sein Blut trinken, wenn wir das Abendmahl nehmen.“ Sie stellt mich wieder auf den Boden. „Jetzt geh´ wieder an deinen Platz, Anne.“
An meinem Platz sitze ich ganz still. Rings um mich wird laut geschwatzt, auch der Pfarrer hat sich beruhigt und seine hohe Stimme reiht sich jetzt ein in den Plauderteppich, der mich umgibt. Blutrot sehen Tante Inges Lippen aus, sie kaut an einem Bratenstück. Onkel Heinz hängt ein Fleischfetzen zwischen den Zähnen. Zum Pfarrer rüber traue ich mich kaum zu schauen. Ihm rinnt das Blut übers Kinn. Ich bin so froh, dass ich Papa, der in meiner Reihe sitzt, nicht sehen kann.
Sie essen unseren Herrn Jesu. Sie trinken sein Blut.
Abends kommt Mama – wie jeden Abend - an mein Bett, um mit mir zu beten.
„Mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“
Über meinem Bett hängen die Bilder von Lambarene und Bethel. Der soll nicht in mir wohnen, der Jesus. Ich will den nicht drin haben in mir. Ich falte die Hände über der Decke, aber ich spreche die Worte nicht mit. „Anne?“ Ich schüttele den Kopf. „Willst Du nicht mit mir beten?“ Ich presse die Lippen aufeinander. „Aber Anne. Du machst mich ganz traurig. Und den Herrn Jesu auch.“ Ich drehe den Kopf zur Wand und mache mich steif. Mama glättet meine Decke. „Das ist sehr traurig. Und sehr böse, Anne. Wir sprechen morgen darüber.“ Sie macht das Licht aus.
Ich will den nicht haben, den zerfledderten Jesu. Mein Herz ist nicht rein. Ich neide Kerstin den Kaufladen. Ich habe den Gregor vorgestern gehauen. Ich bin wieder auf die Brücke geklettert und habe unter den Zügen gelegen. Und wenn Kerstin und ich feine Damen spielen, stellen wir uns vor, dass wir schwarze Spitzenunterwäsche tragen und große Brüste haben wie die Frauen im Otto-Katalog im Wäscheteil. Es kommt nicht drauf an, was man tut, sagt der Pfarrer. Schon die Gedanken sind sündig. Die Katholiken machen sich´s leicht, sagt er. Die kaufen sich mit Gebeten frei. Auf so billige Gnade sind wir nicht aus. Wir stellen uns unserer Sündhaftigkeit, sagt der Pfarrer.
„Ganz tief hinein in dein Herz kann er schauen, der Herr Jesus. Dem machst du nichts vor, den kannst du nicht belügen.“
Jetzt schmeiße ich den raus. Die fressen ihn und trinken sein Blut und nachher soll er sich bei mir einnisten, damit keiner es merkt. Mir laufen Tränen über die Wangen. Ich fange sie mit der Zunge auf. So stark bin ich.
„Ich bin klein, mein Herz ist nicht rein. Soll niemand drin wohnen. Ich bleibe allein.“
In der Nacht habe ich einen Alptraum. Ich träume davon, wie der Pfarrer und Tante Inge und Onkel Heinz und Frau Lambert und Doktor Heller und – ja – meine Mutter ihre Zähne in den Leib des toten Jesus schlagen, wie sein Blut ausströmt aus all den Wunden, wie sie es aufschlecken mit ihren rosa Zungen. Ich muss geschrien haben, denn Mama kommt, knipst das Licht an, setzt sich auf meine Bettkante und will mich fest an sich drücken. Ich bin glatschnass geschwitzt und zittere, aber ich schubse sie weg. „Anne.“ In Mamas Augen schimmern Tränen. Ihre Hand streckt sich nach mir, aber sie bleibt mitten in der Luft stocken, als sie meinen Blick sieht, der an ihren Lippen haftet. „Anne.“ Da umarme ich sie ganz fest, aber ich bohre meinen Kopf in ihre Schultern, damit sie mich nicht auf die Wange küssen kann mit ihrem roten Mund.
Jetzt ist der Feind in der Burg. Ich bin da. Gregor sollt ihr nicht kriegen.







Astrid – Lesen lernen (1982)
Sie wäre strohblond und trüge das Haar streichholzkurz. Die Augen leuchteten meerblaugrün, wie die See im Sommergewitter. Hellhäutig wäre sie und dünnhäutig, leicht zu übersehen, aber nie zu überhören. Wenn alles vorbei wäre, schickte Astrid mir ein Band mit Bob Dylans "Just like a woman"; das träfe mich: "She makes love just like a woman but she breaks just like a little girl." Sie wäre versetzt worden oder hätte sich versetzen lassen, genau erführe ich das nie. Jemand hätte gesehen, wie wir uns umarmten in Astrids grünem CV5 auf dem Parkplatz hinter dem Schwimmbad.
Vor Astrid las ich Angélique (alle Bände), Simmel, ein wenig Hermann Hesse, auch Luise Rinser und was sonst so rumstand in der staubigen Gemeindebibliothek. Dann forderte sie uns auf, dieses dünne Buch anzuschaffen: "Abschied von den Eltern". Ich hasste den Ich-Erzähler: selbstgefällig, ignorant, verwöhnt, schimpfte ich ihn. Ein Reiche-Leute-Kind, das sich um sich selber drehte. Seine Not, sein Begehren, seine Hilflosigkeit schienen mir so belanglos angesichts des Zusammenbruchs der Zivilisation, von dem aus der schrieb. Warum sollte ich mich mit seinen Inzestträumen befassen? Wie ungerecht war der Ich-Erzähler seiner Mutter gegenüber, die zu retten versuchte, was zu retten war. Während der seine Träume analysierte, wurden die Arbeiterführer gefoltert. Im Unterricht knallte ich das Buch auf den Tisch. "So ein Schrott." Ich wollte über einen lesen, der begriff, was 1936 um ihn herum vorging. Der Widerstand organisierte, statt über Kunst zu theoretisieren. Astrid ließ mich toben. Nach der Stunde sprach sie mich an: "Die Ästhetik des Widerstands - Peter Weiss hat sie geschrieben. Den Gegenentwurf zum autobiografischen ´Abschied´." Verständnislos starrte ich sie an. Doch ging ich auf ihr Angebot ein, mit ihr hineinzulesen in das gigantische Werk.
"Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen und zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso...", las Astrid und ich fragte: "Was ist ein Torso?" Astrid hatte einen Katalog des Pergamonaltares da, den blätterte sie auf, zeigte und erklärte. Ich war gebannt:"....zottige Jagdhunde, die Mäuler verbissen in Lenden und Nacken, ein Fallender, mit dem Ansatz des Fingers zielend ins Auge der über ihm hängenden Bestie..." Sätze, die sich über ganze Seiten hinzogen, rhythmische Folgen, die hinter die Augen dringende Bilder erzeugten: "zu rohem Oval gespaltener Kopf". So ließ sich zeigen, was die litten, die nicht mächtig waren. Nie waren sie vollständig, immer stellten sich ihre Körper als versehrt heraus. Doch rangen die Götter mit ihnen. Ich staunte und lauschte. Zwischendurch stand Astrid auf, um in der Küche Tee zu kochen. Sie trug ein kurzes, sommerfeldblumenfarbenes Kleid. Ich bemühte mich, nicht auf ihre zart gebräunten Beine zu starren. Als sie mit dem Tee in der blaulackierten getöpferten Kanne zurückkam, setzte sie sich mit übergeschlagenen Beinen zu mir auf den Boden. Wir lasen weiter, die Köpfe dicht aneinander gedrängt über dem Buch. Am Rand hatte Astrid Seite für Seite in ihrer krakligen Mädchenschrift Bemerkungen notiert. Viele Sätze waren unterstrichen: "Genuß vermittelte das Werk den Privilegierten, ein Abgetrenntsein unter strengem hierarchischem Gesetz ahnten die andern." Erstmals, so fühlte ich, öffnete sich hier "hohe Literatur" den Erfahrungen, von denen ich herkam. Unsere Knie berührten sich ganz leicht. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Ich wollte mich weder aufdrängen, noch wollte ich die zarte Verbindung auflösen. An der Tür verabschiedeten wir uns zögerlich. Keine wagte, einen Schritt weiter zu gehen, doch trafen wir eine Verabredung für den übernächsten Nachmittag.
Den ganzen Sommer hindurch lasen wir "Die Ästhetik des Widerstands", zu Beginn las nur Astrid vor, später versuchte auch ich mich an den gewundenen Sätzen. In ihrer Wohnung aßen wir von meiner Oma gebackenen Erdbeer-Rhabarer-Kuchen am graugestrichenen Tisch in ihrer winzigen Küche, später saßen wir auf dem schmalen Balkon, der in den Hinterhof hinausging, und rauchten Marihuana. Ich genoss die Sommertage wie einen flüchtigen Traum, von dem man weiß, dass er im Morgengrau zerbirst, den man aber bis zum letzten Augenblick auskosten will. Was sah Astrid, die sieben Jahre Ältere, in mir, dem 17jährigen Mädchen? Ich ahnte es nicht. Sie sprach mit mir, als gäbe es den Altersunterschied nicht. Heftig konnten wir aneinander geraten. Sie wollte mich überzeugen, dass im anderen deutschen Staat verwirklicht werde, was wir ersehnten. Doch Weiss war nach Stockholm ausgewichen. Das schien mir wichtig. "Das Eigentum an den Produktionsmitteln ist nur ein Aspekt.", dozierte ich wie eine Alte. "Dem, der an der Maschine steht, Astrid, ist´s in dem Moment gleich, ob sie ihm gehört, wenn die Arbeit, die er zu tun hat, immer noch öde und entleerend ist. Verstehst du das nicht?" Sie schimpfte meine Sichtweise "unhistorisch". Ich sagte: "Wem´s den Rücken beugt, der will jetzt wissen, wie er sich aufrichten kann." Immerzu lag in der Luft, dass dieses unser  letztes Treffen sein könnte. Keine Sekunde auch war ich mir nicht unserer Körper bewusst. Jede Stelle prickelte, von der ich annahm oder wahrnahm, dass ihr Blick sie erfasste. Immer wieder berührten wir uns wie zufällig und verharrten dann so, dass die Verbindung erhalten blieb: unsere kleinen Zehen unter dem Stuhl, unsere Ellenbogen auf dem Tisch, unsere Knie auf dem Boden.
An einem Freitagmittag hörte sie mich auf dem Weg zum Parkplatz fluchen, weil mein Fahrrad einen Platten hatte. Sie bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Im Auto bat sie mich, ihre Brille aus dem Handschuhfach zu fischen. Ich wühlte zwischen Taschentüchern, Eiskratzer, Bonbonpapieren. Sie berührte mich leicht mit der Hand an der linken Schulter. "Sie liegt ganz rechts hinten im Eck." Statt nach der Brille zu schauen, drehte ich mich in ihre Armbeuge hinein. Mit beiden Händen umfing ich ihr Gesicht. Dein Mund so trocken, Astrid, deine Haut so sommersprossig, deine hellen Brauen küss ich gegen den Strich, so gleiten meine Lippen über dieses Land, so vertraut, so fremdartig. Deine Stirn, ganz leicht öffne ich den Mund, hinterlasse vier winzige Tropfen. Dann reißt sie mich herab. So ein Kuss, schon ist die Zunge ganz tief drin in mir und hinaus, schleicht um meine Lippen. Astrid. Astrid.
Irgendwer hätte uns dort im Auto gesehen. Ich wäre zum Direktor bestellt worden. "Da war nichts.", hätte ich gesagt. "Ich hatte Liebeskummer und habe mich bei Frau. H. ausgeheult. Sie hat mich nur getröstet." Ich weiß nicht, ob er mir geglaubt hätte. Im Flur hätte ich Astrid zum letzten Mal gesehen. "Sie haben mich doch nur in den Arm genommen, weil ich Liebeskummer hatte. Wir sind doch keine Lesben.", hätte ich gesagt. Am Tag danach hätte sie sich krank gemeldet. Danach wäre sie versetzt gewesen. Wenn sie versucht hätte, mich noch einmal anzurufen, hätte ich aufgelegt.





Trabis getankt – Wir kommen (1989)
Das Foto von Ende September 1989 zeigt mich auf der Strandpromenade,  zum ersten Mal in einem Damen-Jackett. PfefferundSalz sagt man zu dieser undefinierbaren Farbe. (Auch das hatte sie gerade erst gelernt.)
Ich trage es unentschlossen über einer engen Jeans. Die Haare sind noch sehr kurz, knapp der Punk-Phase entwachsen, nicht mehr tiefschwarz, sondern schon rotbraun gefärbt. Es wird einige Jahre dauern, bis Ich zum ursprünglichen Blond zurückkehren werde. Sie liegen wie eine Kappe um den Kopf, so kurz noch, dass sich die Naturlocken, die ich in späteren Jahren täglich mit dem Lockenstab glatt ziehen werde, nicht zeigen können. Die Augen habe ich versuchsweise zart umrandet, kein harter schwarzer Strich mehr.
Wenn ich heute dieses Foto anschaue, erkenne ich, dass A. damals fast noch ein Mädchen gewesen ist. Sie ist 24 Jahre alt. Sie schaut so ernst. Sie hat sich entschieden, erwachsen zu werden. Die Examensarbeit ist geschrieben. 6 Wochen später wird sie die mündliche Prüfung bestehen. Sie hat versprochen, 5 Jahre zuvor versprochen, dass sie ab Januar 1990 in jedem Fall und in vollem Umfang selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen wird. Sie hat genügend Geld von den Semesterferienjobs gespart, um dieses Versprechen bis zum Sommer des kommenden Jahres auch dann halten zu können, wenn die Bewerbungen um eine feste Stelle nicht sofort erfolgreich sein werden. Es wird nicht leicht. Sie hat „brotlose Kunst“ studiert, wie ihr Vater sagt. Sie ist nicht zuversichtlich. Sie ist entschlossen. Sie wird dafür sorgen, dass die Eltern sich keine Sorgen machen müssen. Sie wird ihnen zeigen, dass „alles gut gegangen ist“: Das Risiko der „höheren Bildung“, der Verzicht auf einen „Brotberuf“, der Griff nach den Sternen.  „Wir sind so stolz auf dich.“ Das sollt ihr bleiben.
B., der dieses Foto aufgenommen hat, schien immer schon zu sein, was ich mir jetzt vorgenommen hatte: erwachsen. „Junger Freund“, sagte er im Hausflur zu meinem Mitbewohner. O weia. Aber als gütig und wohltuend habe ich empfunden, wie er auf mich schaut, so klug, so überlegen, so sicher. Dieses Foto zeigt mich in diesem Blick, den ich gern auf mich gerichtet sah: zart und klein, unsicher und schutzbedürftig, mit großen Augen von unten her aufblickend. So sind alle Bilder, die du von mir gemacht hast. So wollte ich bei dir sein, für dich sein. Meinen Kopf an deiner Brust, höher rage ich nie. Was denkst du da oben?
Leite mich. Diesen Ruf hast du nicht angenommen. Immer bin ich ein bisschen „over the edge“, unbeherrscht und manchmal auch naiv, meinst du, in meinem Zorn wie in meiner Leidenschaft – das hast du gern und amüsierst dich, wenn ich strauchle. Dann darf ich zu dir kommen und mich ausruhen. Aber du hältst mich nie fest. Nimmst mich nur auf, wenn ich darum bitte. Zerrst niemals an mir. Scheinst dich nie zu verzehren. Was ich ersehne. Er ist so geschlossen. Das reißt sie hin. Dass er unbezwingbar wirkt.
Dort an der Ostsee, in der Examenspause, wird die Wende vollzogen. Die von hier zurück fahren wird, bewirbt sich: mit besten Noten, klug, fleißig, ein wenig schüchtern, nicht zu selbstbewusst. Er, aus großbürgerlichem Hause, fühlt die Zwänge nicht. Er promoviert, schränkt seine Bedürfnisse ein, nimmt aber ohne Bedenken auch in seinem Alter Geld vom Vater. Die Herbsttage 1989 an der See sind stürmisch, doch in der winzigen Ferienwohnung sind wir uns wohlig nah. So könnte es gehen, scheint es euch, die auf Dauer angelegte Zweisamkeit. Stille Tage sind es, ihr lest viel. Sie liest Anna Karenina, er liest Niklas Luhmann „Liebe als Passion“. Man könnte das symbolisch deuten. Deshalb ist es vielleicht nicht wahr.
In der Wohnung gibt es keinen Fernseher. Dass sich draußen in der Welt ein historischer Umbruch vollzieht, erfahrt ihr jeden Tag durch die Schlagzeilen der BILD-Zeitung, wenn ihr am Kiosk vorbei hinunter zum Strand geht. „Trabis getankt, wir kommen....“, lest ihr. Ihr entschließt euch, abends um 20.00 Uhr im Aufenthaltsraum des Kurmittelhauses die Tagesschau zu sehen. Auf dem Gelände der Prager Botschaft wird es eng, seht ihr, so viele Ausreisewillige. Du prüfst zuschauend deine Gefühle. Die Prüfung führt zu nichts. Erst am 30. September, als Hans Dietrich Genscher vom Balkon der Botschaft aus verkündet: „....Ihre Ausreise....“ und seine Worte im Jubelgeschrei der dort Anwesenden untergehen, kommen dir plötzlich, völlig unerwartet Tränen. Wie einige Monate später, als die Mauer fällt. Da heulst du auch. Und schämst dich. Was verbindet dich denn mit diesen anderen Deutschen? Wolltest du jemals „deutsch“ sein? Das wählt man nicht. Aus den Augenwinkeln nimmst du wahr oder bildest dir ein, dass auch seine Augen feucht sind.
Deutschland erwacht. Und du wirst auf einmal sentimental. Lange hält das nicht vor, natürlich. Als die Volker brüllen: „Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, dann gehen wir.“, musst du dich übergeben. Alles ist „ambivalent“- auch so ein Wort, dem du misstraust. Es kann viel Bequemlichkeit verdecken, den Unwillen, sich zu entscheiden. Und du hast dich entschieden.
1989. Die Wende. Der Aufbruch. Der endgültige Abschied.
Es liegt in meiner Erinnerung eine tiefe Melancholie über den Herbsttagen des Jahres 1989.




Fußball-Fieber (2010)


Jeden zweiten Samstag breche ich um 14.00 Uhr ins Stadion auf. Bevor ich zum Bahnhof radle, verwandele ich mich: mein Trikot, meine Mütze , mein gestreifter Schal. Wer mich nicht vom Fußball kennt, erkennt mich jetzt nicht mehr. Auf dem Bahnsteig treffe ich auf Gleichgesinnte. Manche halten sich bereits an den Bierflaschen fest und haben den glasigen Blick. Zuweilen erschallen auch hackebreite Gesänge. Das ignoriere ich. Trotzdem steigert sich, wenn die Bahn einfährt, meine innere Spannung. Ich spüre, wie sie von den Füßen her hochsteigt: Heute will ich meine Mannschaft siegen sehen.
Auf der Fahrt höre ich die selbsternannten Experten, die die Aufstellung kommentieren, auf den Trainer schimpfen und die Spiele des letzten Spieltages zum wahrscheinlich hundertsten Mal analysieren. Fahrgäste „in Zivil“, die zusteigen, drücken sich meist vor der geballten Fußballmacht in die Ecken, versuchen entweder krampfhaft, Blickkontakt mit den vermeintlichen Hooligans zu vermeiden oder geben sich jovial und erkundigen sich nach den Aussichten für unseren Klub.
Es kommt vor, dass auch Fans der gegnerischen Mannschaft zusteigen. In der Regel bleibt es bei distanziertem Zunicken, manchmal werden ein paar Bosheiten ausgetauscht. Sehr selten wird ein Kampfsingen angestimmt, bei dem es darum geht, die eigenen Lieder lauter durch den Waggon zu brüllen als die Gegner. An all dem beteilige ich mich nicht. Ich bin in diesem Wagen ein Unikum: eine Frau im Fußballtrikot ohne männliche Begleitung, ein Fan ohne Gruppe, eine begeisterte Anhängerin ihres Klubs, die in der Bahn zum Stadion ein Buch liest.
Katrin und ich haben Dauerkarten für die Gegentribüne. Wir treffen uns aber erst im Stadion, da sie meist mit dem Rad kommt und die Fahrradabstellplätze auf der anderen Seite sind. Daher schlängele ich mich alleine durch die Horden zum Einlass, wo wir gefilzt werden. An jedem Durchlass teilen sich ein männlicher und weiblicher Security Guard den Job. Bei Frauen geht es schneller; weil wir weniger sind. Eine der stämmigen Aufpasserinnen klopft mich von den Schultern abwärts an der Außenkante ab, dann die Innenseite der Beine fast bis zum Schritt. Jedes Mal, wenn ich durch Tor B 30 ins Stadionrund trete und die Treppe zu unseren Plätzen hinuntersteige, klopft mein Herz schneller: die Fahnen, die Trikots, der Jubel, die Spannung der 40.000, die in der Luft liegt. Wir sitzen ziemlich nahe am Spielfeld, so nah, dass wir die Spieler schnaufen hören. Rundum begrüßen wir unsere Nachbarn mit Abklatschen. Man kennt sich. Immerhin sieht man sich alle zwei Wochen.
Rechts neben mir sitzt Helmut. Helmut ist  63 Jahre alt und hat über 40 Jahre in einer Gummireifenfabrik gearbeitet. Dann ist ihm ein Gabelstapler über den linken Fuß gefahren. Alle Zehen mussten amputiert werden. Seitdem ist Helmut Frührentner. Helmut kommt mit seinem Ex-Kollegen Werner. „Ich rechne es dem Werner hoch an, dass er den Kontakt gehalten hat.“, sagt Helmut. „Seit ich net mer schaff´,...“, so fangen viele Sätze von Helmut an. Oft klingen sie resigniert. Hier im Stadion hängt sich Helmut aber voll rein und unterstützt unsere Mannschaft lautstark. Nie jedoch brüllt er Beleidigungen der Gegner aufs Feld. Dass dagegen unterlässt Konni, der links neben Katrin sitzt, nie. „Hurensöhne“ ist noch eine der harmloseren Anreden, die er den gegnerischen Stürmern oder Verteidigern zuteil werden lässt. Er schaut immer ein bisschen entschuldigend zu uns herüber nach seinen Ausbrüchen, aber lassen kann er es nicht.
Hinter mir sitzt der Herr Gerichtspräsident, den wir auch tatsächlich immer mit „Herr Gerichtspräsident“ ansprechen. Er ist ein imposanter Herr mit kurzem grauem Borstenhaar, Adlernase, stechendem Blick und trainiertem Körper. Er trägt zum Fußball graue Chino-Hosen, Freizeithemd, legeres dunkelblaues Sakko und seinen Fanschal. Einmal hat uns der Herr Gerichtspräsident in den VIP-Bereich auf der Haupttribüne eingeladen. Man kann mit dem Wagen (natürlich dunkle Limousine der S-Klasse) unterirdisch vorfahren, steigt aus, ein Fahrer fährt den Wagen in die Haltebucht. Mit Aufzügen ging es hoch in die VIP-Schaukästen, von denen man zugegebener Maßen einen guten Überblick ins Stadionrund hatte. Edle Häppchen und gute Weine wurden gereicht. Die Reichen und Schönen standen in eleganter Freizeitkleidung herum wie auf jedem anderen Empfang auch. Einige hatten sich immerhin mit ein paar dezenten Fan-Accessoires versorgt. Am Spiel war kaum jemand interessiert, außer dem Ministerpräsidenten, der sich volksnah gab. (Ich ging zwischendurch während der Vorstellungsrunde schnell auf Toilette, weil ich dem nicht die Hand geben wollte.)
Der Herr Gerichtspräsident schätzt die Atmosphäre bei uns mehr, deshalb hat er sich den Platz auf der Gegentribüne gebucht. Diese Haltung käme nicht gut an, wenn er uns zu seiner Unterhaltung bloß benutzte. Er schreit und singt aber selbst eifrig mit und regt sich mehr als alle anderen über angeblich falsche Schiedsrichterentscheidungen auf. Daher wird er akzeptiert. Neben ihm sitzt „Elmar Elegant“, wie Katrin und ich ihn nennen, wenn wir unter uns sind. Direkt sprechen wir ihn mit dem Kürzel an, mit dem er sich vorgestellt hat: „Ich bin de Elle.“ Elle ist nicht elegant gekleidet. Er bevorzugt zu enge schwarze Lederhosen und stopft dahinein gerne gleichfalls eng geschnittene schwarze T-shirts oder Hemden. Wir geben ihm den Kosenamen, weil er jedes Mal, wenn ein gegnerischer Spieler in unserer Nähe einen Fehler macht, laut singt: „Das war super. Das war eeeee-lee-gant.“ Das macht besonderen Spaß, weil die Gemeinten nah genug sind, Elles Worte zu verstehen. Das hat schon einige sichtlich irritiert.
Es gibt, davon sind wir überzeugt, einen engen Zusammenhang zwischen Elles Abwesenheit und Toren für unseren Klub. Elle hat einen legendären Bierkonsum. Das führt dazu, dass er die Tribüne mehrfach während des Spieles verlassen muss, entweder um Nachschub zu holen oder um seine stets nachgefüllte Blase zu entleeren. Alle Tore, die wir in der letzten Saison für unsere Mannschaft gesehen haben, fielen, wenn Elle gerade unterwegs war. Wir vertreten außerdem die Theorie, dass die Wahrscheinlichkeit eines Tores für uns signifikant höher ist, wenn Elle aufs Klo geht als wenn er Bier nachordert. Daher wird Elle von uns häufig aufgefordert, seine Blase zu erleichtern. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass keineswegs jedes Mal ein Tor fällt, wenn Elle auf Toilette geht. Wäre es so, erfüllte sich erstmals in meiner Lebenszeit, was wir unverdrossen zu Beginn jedes Spieles singen: „Wir werden Deutscher Meister und holen den DFB-Pokal.“ Elle geht wirklich oft genug. Es ist aber so, dass sich bloß die Wahrscheinlichkeit eines Tores dadurch erhöht. Sicher ist es nicht. In Wahrheit kommt es wesentlich häufiger vor, dass kein Tor für uns fällt oder wir sogar ein Gegentor kassieren. Seit Katrin und ich die Plätze auf der Gegentribüne haben, sind wir schon zweimal aus der Liga abgestiegen. Gegen jede Erfahrung bin ich dennoch jeden zweiten Samstag voller Vorfreude und glaube fest an den Sieg. Ich stehe kerzengerade auf meinem Platz, wenn wir unsere Hymne singen, und halte meinen Schal in die Höhe, ich springe auf, wenn unser Rechtsaußen eine gute Flanke in den Strafraum gibt und ich fluche wie ein Rohrspatz, wenn unser halber Stürmer den Ball ungelenk übers Tor lupft. „Den muss er machen.“, schreie ich und Helmut schüttelt bedenklich den Kopf. Meistens verlassen wir das Stadion gedrückt. Wieder war es nix. Aber in jeder Saison gibt es die Höhepunkte, die Siege über scheinbar unbezwingbare Gegner, den Moment, wenn wir alle aufspringen und brüllen: „Tooooor. Toooooor. Tooooooor.“, wenn wir uns in den Armen liegen und hüpfen vor Freude, dass wir den Bayern den sicher geglaubten Auswärtssieg verdorben haben. Nach jedem Tor unserer Mannschaft fasst Helmut mich mit beiden Händen um die Taille und hebt mich zum Torjubel hoch. Weil ich klein und zierlich bin, schafft er das trotz des lädierten Fußes. Am Anfang hat Katrin gesagt: „Wie kannst du dich von dem Alten so anlangen lassen?“  Er fasst mich aber nie ungebührlich an oder hält unnötig lange fest. Ich glaube, es ist einfach schön für ihn, zu spüren, dass er das noch kann. Und mich macht es froh, Helmut froh zu machen. Das gönne ich uns beiden.
Manchmal – selten –  fahre ich in Hochstimmung zurück vom Stadion, rufe zu Hause an und bitte darum, einen Wein bereitzustellen, um auf den Sieg anzustoßen. Meistens ist meine Stimmung aber eher mies. In meinem Kopf läuft dann noch einmal das Spiel ab, mit all den vergebenen Chancen und vermeidbaren Fehlern. Ich ärgere mich und trauere: Wir werden niemals Deutscher Meister. Bis kurz hinter M***. Dann packe ich mein Buch ausund schlage dort auf, wo ich das Buch vor 90 Minuten + 15 Minuten Pause + 2 x 30 Minuten An- und Abfahrt zugeklappt hatte.




Der Freund meiner Freundin ist ein Filou (2009)
Eric Rohmers L´ami de mon amie (1987) ist einer meiner Lieblingsfilme aus dem Zyklus „Komödien und Sprichwörter“. Er zeigt, dass zurückhaltende und reflektierte Männer besser zu schüchternen und belesenen Frauen passen als charismatische und selbstgefällige Beaus. Eine Binsenweisheit ist das und doch wird sie – wie jede schon beobachten konnte oder gar selbst erlebt hat – durch die Wirkung der Hormone oder Pheromone oder was immer da den Ausschlag gibt, dauernd ausgehebelt. Kluge Frauen verlieben sich in dummdreiste Muskelprotze und liebenswerte Männer in herzlose Femmes fatales. Meine Freundin A., eine schöne, gebildete, erfolgreiche Frau, verliebt sich regelmäßig in Filous. Der Filou, sagt das Wörterbuch, sei „ein Spitzbube, ein Schlaukopf, ein Trickbetrüger und neuerdings auch eine billigere Unterart des Playboys.“ Diese Definition trifft den jungenhaft-charmanten Typus, auf den A. hereinfällt, recht gut.
Es ist jedes Mal von Anfang an alles ganz offensichtlich, vorhersehbar und katastrophal. Sie umwirbt diese verspielten Tunichtgute mit Herzlichkeit, Geschenken und Offenheit. Sie macht alles zugänglich: ihre Wohnung, ihren Körper, ihr Bankkonto, ihr Herz. Sie lässt sich ohne Rückhalt ein auf den Filou, erdet seine verstiegenen Träume und öffnet seinen Hoffnungen den Horizont. „Ich glaube an dich“, sagt sie ihm und schlägt wie ein kleines Mädchen für den Filou treuherzig die Augen auf. „Schau her“, sagt dieser Blick, „ich, eine erwachsene Frau, die es nicht nötig hat, schenkt sich dir her.“ Das gefällt dem. Und lässt ihn sofort den Respekt verlieren. Die Frau macht er sich untertan; das steht fest. Die benutzt er und betrügt er, der fährt er mit der Zunge übers Gesicht, die lässt er zittern und bangen, ob er noch anruft heute Nacht oder morgen früh. Dann wartet sie auf jede Nachricht von dem Filou wie ein Teenager und gerade deshalb meldet der sich erst vier Tage später. Wenn es dann Aus ist, weil der Filou eine gefunden hat, die noch dichter am Boden kriecht, dann liegt A. auf dem Sofa bei mir und weint sich die Augen aus und sagt: „Ich bin so in den hineingelaufen, total verloren habe ich mich in dem.“ Noch einmal erzählt sie mir alles, was der Filou je gesagt hat und wie er sie gestreichelt hat und wie der Filou in ihr wecken konnte, was kein anderer aufgestört hat: ein neues Verlangen, ein Wissen um ihre Sehnsüchte und er habe ihr ganz ohne Anlass 50 Rosen geschickt, das hätte er nicht tun müssen und einmal sei er mitten in der Nacht noch aus M******* zu ihr gekommen, erschöpft von der Reise, aber er habe sie unbedingt sehen müssen. Es sei doch nicht ganz einseitig gewesen, ganz bestimmt nicht, aber sie habe sich eben zu sehr...
Ich lasse meine Freundin reden. Nicht immer, gestehe ich, höre ich ihr aufmerksam zu. Diese Unterhaltung hat einfach schon zu oft stattgefunden. Wir, A. und ich, kennen uns seit mehr als 25 Jahren. Ich habe die Filous kommen und gehen sehen, einen nach dem anderen. Sie hat sie alle überlebt. Sie wird auch diesen Filou überleben und für mich zählt, dass unsere Freundschaft sich jederzeit als stärker erwiesen hat als alle Filous. In früheren Jahren habe ich noch darauf gedrängt, sie mit Männern bekannt zu machen, die „ihrer wert“ gewesen wären. Ich habe das aufgegeben. Ich mag die Filous. Sie sind charmant und unterhaltsam. A. hat einmal über einen gesagt: „Wenn er den Raum betritt, beginnt alles zu funkeln“ Das gebe ich gerne zu, dass die Filous einen Zauber ausstrahlen, der auch auf mich seine Wirkung nicht verfehlt.  Es ist schön, sich von einem Filou in den Seidenmantel helfen zu lassen, weil der Filou anerkennend über den Stoff streicht und sagt: „Das fühlt sich gut an.“ Der Filou bemerkt die neue Frisur und ob du dir die Nägel lackiert hast. Er lässt dich spüren, dass du eine Frau bist und verführt dich dazu mit deinen Füßchen in den Riemensandalen über den Gehsteig zu tänzeln. Ja, ich mag die Filous.
Aber ich flippe aus, wenn ich befürchten muss, dass so ein Filou meine Freundschaft mit A. gefährdet. Das war so: Der jüngste Filou (das soll nicht heißen, dass er besonders jung ist, er ist nur der letzte in der Reihe) ist ein zierlicher Schönling mit einem verschmitzten Jungengesicht. Ich finde ihn nett, obwohl ich weiß, dass auch er A.s Herz brechen wird. Der Filou wohnt etwa 200 km entfernt von uns. Er ist Theaterschauspieler und ich denke, insgeheim plagt ihn die Sorge, dass er für das Fach des jugendlichen Liebhabers nicht nur aus der Nähe betrachtet allmählich zu alt wird. Nun hatte A. den Filou  vor einigen Wochen für ein verlängertes Wochenende zu sich eingeladen. Sie plante ihn Freitagnachmittag vom Bahnhof abzuholen und dann wollten wir uns in einer Ausstellung treffen. Später sollte mein Mann zu uns stoßen, um den Abend zu viert in einem  Weinlokal ausklingen zu lassen. Am Mittwoch rief der Filou mich auf dem Mobile an, fragte ganz unschuldig, ob ich mich gut fühle und erklärte, wie sehr er sich auf die Ausstellung und das Wiedersehen freue. Ich dachte, das sei ein netter, aber auch völlig überflüssiger Anruf und da ich viel Arbeit liegen hatte, versuchte ich das freundliche Geplauder des Filous abzukürzen. Da kam er zum Punkt und eigentlichen Zweck seines Anrufes:  Wäre es nicht schön, wenn wir beide, also er und ich, uns am Freitagmittag treffen könnten, er nähme dann einen oder zwei Züge früher und A. müsse ja auch gar nichts davon wissen. Ich schluckte. Ich finde den Filou nett (sagte ich schon). Ich könnte auch ohne Probleme zu B. sagen: „Du, ich treffe mich da mit einem charmanten Mann.“ Der Filou selbst hatte genau verstanden, auf welcher Ebene der Betrug lag: Ich hätte A. hintergangen; nicht er A. oder ich B. Und das war es, was mich eiskalt und zornig machte. Wie konnte dieser seichte Charge annehmen, ich werde um eines Mannes willen meine Freundschaft mit A. gefährden? Das sagte ich ihm auch. Und brach das Gespräch ab. Der Filou rief auch nicht noch einmal an.
Erst im Laufe des Mittwochabends wurde mir klar, dass, was ich hatte verhindern wollen, schon geschehen war. Denn ich konnte A. nicht erzählen, worum der Filou mich gebeten hatte. Es hätte sie verletzt. A. weiß oder ahnt, denke ich, dass sie im Leben des Filous nicht die einzige Frau ist. Sie beobachtet oft genug, wie er andere Frauen umgarnt. Es ist jedoch etwas völlig anderes, wenn der Filou versucht, mit jemandem, der A. näher steht, als er es je könnte, Geheimnisse zu haben.Genau dies aber hatten wir jetzt. Der Filou und ich hatten ein Geheimnis miteinander; wir hatten ein Gespräch geführt, von dem ich nicht wollte, dass A. davon erfuhr. Ich wollte nichts mit dem Filou gemeinsam haben als A. Es hatte mir früher wehgetan, wie sehr A. sich an diese Filous verschenkte. Ich hatte mich über die Jahre daran gewöhnt. Sie fand einfach an einem Mann, der sie verdient hätte, keinen Gefallen: kein Happy End für A. Damit hatte ich mich abgefunden. Und doch hatte es ja immer ein gutes Ende genommen: A. und ich hatten ein Frauenwochenende verabredet, wir hatten uns gegenseitig mit Duftölen verwöhnt und uns die geliebten Donauwellen im Café Schädler bestellt.
Nachdenkliche, belesene, kluge Frauen sollten kluge, belesene, nachdenkliche Frauen als Freundinnen haben. Am Ende von Rohmers Film „L´ami de mon amie“ treffen sich die getauschten Paare noch einmal zufällig: die schüchterne Blanche mit dem zurückhaltenden Fabien, dem Ex  der lebenslustigen Lea, die jetzt mit dem Beau Alexandre, in den Blanche lange verliebt war, zusammen ist. Die Freundinnen Lea und Blanche sind verlegen; sie haben sich, wie sich zeigt, nichts mehr zu sagen, nun, nachdem zusammen ist, wer zusammen gehört. Die Freundschaft der beiden diente nur dieser Klärung. Jetzt liegt alles offen zutage: Blanche und Fabien tragen Grün, Lea und Alexandre Blau. Unsere Freundschaft, A.s und meine, dient nicht der Klärung unseres Verhältnisses zu Männern. Ich liebe meine Freundin A. Ich weiß mich von ihr geliebt. Die Filous sind Episoden. Ich habe mich für das Wochenende, an dem der Filou anreiste, bei A. entschuldigt und bin in die Berge zum Wandern gefahren. Der Filou wird über kurz oder lang aus A.s Leben verschwinden. Wir werden unsere roten Windjacken anziehen und eine Schiffsfahrt unternehmen. In B********* werden wir übernachten, nach einer langen durchzechten Nacht. Wir werden heulen und uns schlapp lachen und am späten Nachmittag des folgenden Tages, wenn der Kater sich langsam verzieht, werden wir ein Café suchen, in dem es Donauwellen gibt.


Unversöhnlich (1987)
An dem Nachmittag, als ich Georg zum letzten Mal lebend sah, setzte er sich auf meinen Kühlschrank, ließ die Beine baumeln und sagte: „Küss mich.“ Ich stand am Spülbecken mit dem Rücken zu ihm und drehte mich herum. Er zog die Sonnenbrille ab und legte sie neben sich. Ich sah ihm in die Augen, sah, was ich in den letzten Wochen versuchte hatte zu übersehen. Also trat ich zu ihm hin, stellte mich zwischen seine Beine, nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn, ganz zart zuerst, dann presste ich fester, stieß mit der Zunge vorn gegen seine Lippen, glitt drüber hin, zwischen sie durch, in seinen Mund hinein. Georg blieb passiv. Ich holte Atem, dann küsste ich ihn ein zweites Mal, beinahe gewaltsam jetzt, ich drückte mich ganz fest gegen den Kühlschrank und meine Brüste gegen seinen Oberkörper, versuchte ihn aufzusaugen, seinen Mund in meine Mundhöhle. Keuchend lösten wir uns schließlich voneinander.„So.“, sagte er, glitt vom Kühlschrank hinunter und schob seine Sonnenbrille über die Augen. „Dann kann ich ja jetzt gehen.“ Schon war er weg. Ich warf mich aufs Bett.
Vor einiger Zeit hatte ich in Göttingen zu tun und überlegte, ob ich Georgs Grab besuchen sollte. Doch ich verwarf den Gedanken. Ich glaube auch, dass ich die Grabstelle gar nicht gefunden hätte. Schließlich war ich nur dieses eine Mal dort. Ich erinnere mich  an die Wieselaugen von Georgs Vater bei der Beerdigung. Flink flitzten sie hin und her, schafften es aber nicht, auch nur einen der Freunde von Georg, die er nicht gekannt hatte und jetzt auch nicht mehr kennen lernen würde, zu fixieren. Er schien neugierig, mit wem sein Sohn Zeit und auch Geld und Körperflüssigkeiten geteilt hatte. Doch offensichtlich konnte er uns nicht ein- und zuordnen und war dann doch zu wenig interessiert oder zu feige, um nachzufragen.
Zwei Tage nach den Küssen auf dem Kühlschrank hatte Kerstin mich angerufen, um mir zu sagen, dass Georg sich auf dem Dachboden erhängt habe. Eine Nachbarin hatte ihn gefunden. Das Telefon stand kaum mehr still. Freunde und Bekannte hatten was gehört oder wollten wissen, was ich gehört hatte. Später in der Nacht hatte schließlich auch Georgs Bruder meine Nummer von irgendwem erhalten. Er fragte, ob wir uns am übernächsten Tag vor Georgs Wohnung treffen könnten. Ich dachte: Soll Kerstin sich doch drum kümmern, sie ist schließlich zwei Jahre mit Georg zusammen gewesen. Das sagte ich nicht zu Georgs Bruder, den ich noch  nie zuvor getroffen hatte, sondern ich sagte, dass ich zu Georgs Wohnung kommen werde und fügte noch hinzu, wie leid mir „das alles“ täte.
Vor Georgs Wohnung stand der Bruder und klimperte nervös mit dem Schlüssel. Er sah aus wie Georg, nur ein wenig stabiler und älter, richtig unheimlich war diese Ähnlichkeit. Allerdings hatte er die Haare nicht schwarz gefärbt und streichholzkurz geschnitten. Auch trug er keinen Ring im linken Nasenloch. Er hatte eine schlichte Jeans und ein T-Shirt an. Keine Ketten baumelten, er trug keine Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln und kein Nietenarmband. Er war nicht Georg, aber er bewegte sich genauso fahrig und verfehlte zweimal das Schlüsselloch, als er versuchte aufzuschließen. Vielleicht hatte das also nicht an den Drogen gelegen, die Georg sich reinzog. Ich wollte die Sache schnell hinter mich bringen. Bloß nicht ins Gespräch kommen mit dem Bruder über Georg und die Gründe und so weiter, dachte ich. Er schien das ähnlich zu sehen, jedenfalls vermied er es fast die ganze Zeit sehr geschickt mich anzusehen. Er löste das Siegel von der Tür, das die Polizei angebracht hatte. Als er aufschaute, grinste er mich schief an: „Darf ich. Hab´ich die Genehmigung gestern für gekriegt.“
Georgs Wohnung bestand nur aus einem Zimmer mit Kochnische und einem schäbigen Bad mit abplatzendem Putz. Er hatte nichts auf- und weggeräumt bevor er sich den Strick genommen und auf den Dachboden gestiegen war. Auf der Kochplatte stand ein Topf, in dem er sich offenbar Bohnen aus der Dose warm gemacht hatte. Die Reste bildeten eine hart getrocknete ekligbraune Kruste. Daneben lag noch der Löffel, den er benutzt hatte. Auf dem Boden verteilten sich die Bücher und Zeitungsausschnitte und Schallplatten, auf dem Plattenteller lag „26 Monster Songs for Children“. Genial passend. Wusste er, dass ich es sein würde, die die Platte vom Teller nehmen würde? Wie hatte er mich beleidigt, als er zu Kerstin gesagt hatte: „Ich mag deine naive, kleine Freundin.“, was die mir natürlich wörtlich widergab. Zum Geburtstag hatte er mir ein Scheißbuch geschenkt, das  von Gummibärchen handelte, jedenfalls nahm ich das wegen des Titels an, denn ich hatte es direkt nach der Party in den Müll geworfen. „Ich dachte, das passt irgendwie zu dir.“, war sein Kommentar gewesen, als er es überreichte.
Erst nach seiner Trennung von Kerstin hatte er aufgehört, mich wie ein kleines Püppchen zu behandeln. Er hatte bei mir in der Küche gesessen, oft auf dem Kühlschrank und mir erzählt, warum es mit ihnen beiden nicht geklappt hatte. Oder versucht mich vom Eintritt in die kommunistische Partei zu überzeugen. Oder wir hatten stumm in einer Kneipe gesessen und unseren Liebeskummer zusammen in Weizenbier und Dracular ertränkt. Oder auf dem Boden in seiner Wohnung gelegen und alte Jimmi Hendrix-Platten gehört. Kerstin hatte gesagt: „Ich bin froh, dass er jetzt nicht so viel alleine rumhängt, direkt nach der Trennung. Ist nett von dir, dass du dich kümmerst.“ Eines Nachts hatte er versucht sämtliche Fenster von Kerstins neuer Wohnung einzuwerfen und sie hatte die Polizei alarmieren müssen. Ich holte ihn auf der Wache ab.
Wenig später begann er diese Stimmen zu hören. Ich ignorierte das. Meistens behelligte er mich nicht damit. Ich sah höchstens, dass er plötzlich den Kopf so seitlich hochdrehte und mir mit den Fingern vor den Lippen bedeutete zu schweigen. Dann lauschte er angestrengt, bis er schließlich die Hand senkte und wir weiterreden oder auch weiter zusammen schweigen konnten. Nur manchmal deutete er was an, sagte zum Beispiel: „Nimm dich in Acht. Wir werden beobachtet.“ oder „Es ist dir klar, dass die alles über uns wissen.“ Ich lachte und sagte: „Sicher. Ich ziehe mir den Gedankenschutzhelm auf, Captain.“ Er schüttelte mitleidig den Kopf. Das machte mich wütend, dass er wieder anfing, mich als Baby zu behandeln. Er merkte das und versuchte von sich aus, das Thema auszuklammern. Einmal als er Geld von der Bank abholen wollte, zog er mich aus der Schlange, in der wir fast zehn Minuten gewartet hatten und schob mich hektisch zum Ausgang: „Wir müssen hier weg, sofort.“ Er riss mich an der Hand mit sich und wir rannten eine Seitengasse hinunter, kletterten über eine Mauer in einen Hinterhof und durch den Vorderausgang eines Hauses tauchten wir in einer Parallelstraße wieder auf. Er schaute sich um, legte mir dann aber beruhigend den Arm um die Schultern: „Ich glaube, wir haben sie abgehängt.“ Ich war völlig außer Atem, tat aber, als sei es ein lustiges Spiel gewesen.
Zwischen dem ganzen Müll auf Georgs Fußboden standen unzählige Teelichter. Neben seiner Matratze sah ich den Kasten mit weißer Theaterschminke und die dunklen Kajalstifte. Als ich mich danach bückte, sagte Georg Bruder: „Ja, er hatte sich das Gesicht weiß angemalt und die Augen ganz schwarz umrandet. Keine Ahnung warum. Irgend so ein Punk-Ding.“ Der letzte Satzbrocken wurde so ausgesprochen, dass ich ihn auch als Frage nehmen konnte. Aber ich ignorierte das. An dem Abend, an dem ich Georg das letzte Mal in seiner Wohnung getroffen hatte, etwa eine Woche vor den Küssen auf dem Kühlschrank, war er auch weiß geschminkt gewesen. Überall hatten die Teelichter gebrannt. Er hatte „The Clash“ aufgelegt und mich schon an der Tür ganz hektisch empfangen. „Es läuft verdammt schief. Sie kriegen mich.“, hatte er gerufen und mich  hinter sich in das dunkle Zimmer gezogen. „Guck nicht so. Ich kann ihnen nicht entkommen. Ist mir schon klar, dass du denkst, ich spinne. Sie werden es wie Selbstmord aussehen lassen. Einwandfrei.“ Ich hatte ziemlich bald an diesem Abend die Schnauze voll von ihm. Erst recht, nachdem ich im Bad die leeren Pillenschachteln gefunden hatte.
Georgs Bruder hatte große blaue Müllsäcke mitgebracht. „Lass uns anfangen.“, seufzte er. „Bin dir echt dankbar, dass du mir hilfst. Nimm dir, was du aufheben willst.“ Ich schüttelte den Kopf und begann mit beiden Händen Georgs ganzen Müll in die Säcke zu schaufeln. Alles weg, das ganze Dreckszeug, die ganzen fleckigen Bücher und Zeitschriften, die schmutzige Wäsche, die Teelichter, das dreckige Geschirr, weg, weg, weg. Wir arbeiteten schnell und systematisch, Georgs Bruder und ich, wie mit einem Rasenmäher Schneise für Schneise des Zimmers säubernd. Als ich zu der Jad Fair-Platte kam, die ich vom Plattenteller genommen und in die Hülle gesteckt hatte, zögerte ich. Ich stellte sie beiseite und nahm sie später mit.
Ich hatte nach dieser Aufräumaktion keine Lust, zu Georgs Beerdigung nach Göttingen zu fahren. Aber Kerstin, die keinesfalls alleine fahren wollte, überredete mich, sie zu begleiten. Bei der Trauerfeier und auf dem Friedhof fühlte ich mich vollkommen deplatziert. Am meisten ärgerte ich mich, dass ich mich von Kerstin hatte breitschlagen lassen, als ich begriff, dass Georgs Bruder sich um die Feier gedrückt hatte. Ich spürte keinerlei Traurigkeit bei der Rede des Pfarrers, über dessen Anwesenheit Georg sowieso sauer gewesen wäre, oder als der Sarg in die Erde versenkt wurde. Ich war vielmehr stinkewütend. Vor wenigen Tagen bin ich beim Stöbern in meinen alten Platten zufällig auf „Monster songs for children“ gestoßen. Ich habe diese Platte jahrelang nicht in den Händen gehabt, kann mich nicht einmal bewusst daran erinnern, sie bei den vielen Umzügen seit Georgs Tod eingepackt zu haben. Ein seltsamer Zufall, das sie mir so kurz nach dem Besuch in Göttingen in die Hände fiel. Ich betrachtete sie kurz, dann brachte ich sie raus zum Müllcontainer. Bevor ich sie rein warf, zerbrach ich sie noch. Ich kann Georg einfach nicht verzeihen.


Blut auf den Fliesen (2003)
Sie lassen mich nicht los: der aufgescheuchte Blick des Jungen, der sich zu uns herumdreht, als wir die Zelle betreten und die Fotographie von seinem Opfer, das zerfetzte, blutgetränkte T-Shirt, die braun verklebten Haare, die Stirn und Nase verdecken, das verdrehte rechte Auge, der hoch gerutschte Rock, der einen lila Slip vorscheinen lässt, der Körper der Frau auf dem weiß gefliesten Boden. Untrennbar miteinander verbunden durch die Worte des Anstaltspfarrers: „Ich zeige Ihnen, was er getan hat.“; unvereinbar in meiner Vorstellung: das verstörte Kindergesicht und der geschundene Körper der Frau. Das  blasse Gesicht des Jungen, die aufgeworfen-trotzigen Lippen, der lose suchende Blick und das getrocknete Blut auf dem Messer (Foto Nr. 4)  fügen sich in meinem Kopf zu keinem Bild. Dazwischen steht unbegreiflich das Wort, das er immer wiederholt, das einzige deutsche Wort, das ihm flüssig von dem Lippen geht: Fliesenleger.
Es war kein Sexualdelikt. Bärbel T. war Murats Stiefmutter. Murat wuchs in Ostanatolien bei seiner Mutter auf. Sein Vater lebte seit Jahren in Deutschland, hatte sich von Murats Mutter scheiden lassen, in Deutschland Bärbel kennengelernt und sich wieder verheiratet. Seinen Sohn Murat sah er nur selten, bei den wenigen Besuchen in seinem Heimatdorf in Anatolien. Wie seine beiden Brüder arbeitete Murats Vater in Deutschland zunächst als Fliesenleger. Als sein Sohn 16 Jahre alt wurde, beschloss der Vater, dass er ihn bei sich haben wolle. Murat wurde in Ankara in ein Flugzeug gesetzt, am Flughafen holten ihn seine beiden Onkel ab. Sie fuhren ihn in das osthessische Dorf, in dem sein Vater mit Bärbel lebte. Bärbels Familie betreibt dort eine Metzgerei, in der inzwischen auch Murats Vater arbeitete. Das Zusammenleben gestaltete sich offenbar schwierig. Murat sprach nur wenige Worte Deutsch. Sein Vater und die Stiefmutter wollten, dass er im Familienbetrieb, der Metzgerei, mithalf. An einem Morgen (der Vater war zum Schlachthof gefahren, um frische Ware abzuholen) waren Murat und die Stiefmutter alleine im Laden. Durch das Schaufenster sah eine vorübergehende Passantin, wie Murat nach einem Fleischermesser griff und – so stellte später der Pathologe fest – 36 mal mit großer Kraft auf seine Stiefmutter einstach, auch als diese schon am Boden lag. Er habe, sagte die Frau aus, „sie regelrecht geschlachtet.“ Schließlich ließ er das Messer fallen, rannte aus dem Laden, über den Hof zum Wohnhaus, hinauf in sein Zimmer und legte sich auf sein Bett. So fand sein Vater ihn, als er nach Hause kam. Die Vernehmung gestaltete sich schwierig, nicht bloß wegen der Sprachbarriere. Murat wiederholte nur immerzu: „Hab ihr gesagt: Will Fliesenleger sein.“
Was anderes, sagt der Pfarrer mir, bevor er mich zu Murat in die Zelle lässt, habe er bis heute nicht gesagt.



Der dänische Steinmetz (1984)
"You´re making it up“, sagte B., als ich versuchte ihm die Geschichte zu erzählen. Also schwieg ich. Dabei ist dies eine der wenigen meiner Geschichten, die sich wirklich so zugetragen haben. Eben deshalb wirkt sie erfunden.
Lars traf ich im Sommer 1984 in Berlin. Er war ein Steinmetz aus Aarhus in Dänemark. Wir stießen auf eine Leiche, die in einen Müllsack verpackt im Landwehrkanal trieb. Wir liebten uns unter einem Eisenbahnviadukt. Man sieht sofort, warum B. diese Geschichte für eine - schlechte – Erfindung hält. Ein Mann mit riesigen Pranken, der Grabsteine haut. Eine Leiche, die im Landwehrkanal treibt. Liebe machen im Rhythmus der Züge. "Der Tod und das Mädchen". Es ist einfach zu perfekt. Sagte B. Aber genau so war es.
Die Fahrt nach Berlin im Frühsommer 1984 war meine erste Reise allein. Ich war noch nie in Berlin gewesen. Ich wollte ohne Begleitung fahren, um dem Abenteuer eine Chance zu geben. Ziellos schlenderte ich durch die große (damals nur halb so große) Stadt, irgendwann absichtsvoll dem Kanal folgend. Dann lehnte ich mich an einer bestimmten Stelle übers eiserne Geländer, den Brustkorb weit vorgeschoben und atmete durch. Ich bin da. Ein paar Stufen weiter unten stand er, stocherte mit einem krummen Ast nach einem grauen Plastiksack im Wasser. Eine weiße Hand ragte aus dem mit einem gelbgrünen Strick bandagierten Müllsack. Er schaute zu mir hoch, als habe er mich erwartet. „It´s a corpse in a trash bag.“, das weiche Dänen-Englisch in tiefem männlichen Bass. Ein scharfer Kontrast, der mich beben machte, mehr als die Hand im Sack. „A corpse.“, wiederholte ich. Das Wort kannte ich nicht. „A body. Girl.“ Ich glitt am Geländer entlang, zu der kleinen Treppe ans Wasser, rückte vor, auf die erste Stufe hinab. „Hi“, sagte ich. „Girl.“, sagte er. Stupid. Ich glaube nicht, dass wir uns in die Augen schauten, überhaupt nicht, dass wir uns anschauten. Ich nahm ihn wahr, seinen ganzen wuchtigen, durchgearbeiteten Körper. Ihn, wie er da war, die Schultern übers Wasser geschoben, groß, fest, kühl, ein skandinavischer Felsen gegen den meine flirrige Leichtigkeit brandete. Sofort. Erst dann sah ich ihn: Stoppelkurz geschnittene orange Drahthaare über einer dominierenden Nasenwurzel, grüne tiefliegende Augen, starkes Kinn, Ohrring im linken wulstigen Ohrlappen, vor allem aber riesige, kräftige Hände, gelbliche Hornhaut an den Kuppen, schmale Hüften unter dem breiten Oberkörper. Er zog mit dem Ast langsam den Sack ans Ufer.
Gimme another stick“, sagte er. „Eine S-tock.“ Ich stolperte die Stufe hoch, suchte unter den Alleenbäumen nach einem starken Ast, grabschte einen, eilte zurück zu ihm, drückte ihm den in die linke Hand. "Danke" sagte er nicht. Mit den beiden Ästen wuchtete er geschickt den schweren Sack an Land. Er atmete einmal lang und tief durch.„Polisei?“ Ich nickte. „Ich rufe die Polizei.“ „O.K. Girl“. Er ließ sich auf den Boden gleiten; das sah trotz der Schwere seines Körpers geschmeidig aus. Ich suchte am Kanalverlauf nach einer Telefonzelle, fand schließlich eine, wählte den Notruf, versuchte unseren Leichenfund kurz und präzise zu melden. Dann ging ich zurück und setzte mich dicht neben ihn auf den Boden. So warteten wir.
Anschließend zog sich alles endlos hin: die Bergung der Leiche, unsere Aussagen auf dem Revier. Als wir schließlich auf der Straße standen mit unseren Rucksäcken, war es schon Abend. Ich wusste jetzt, dass er Lars Pedersen hieß und in Aarhus in Dänemark lebte. Sein Beruf war Steinmetz, was sich aber erst nach längerem Hinundher klären ließ. „I´m making gravestones, you know?“, sagte er zu den Beamten. Ich übersetzte: „Grabsteine. Er macht Grabsteine.“ Da trugen sie „Steinmetz“ in die Spalte ein. „Actually I want to make sculptures.“, erklärte er mir in einer Verhörpause. „But one has to earn money, somehow. So by shaping gravestones I get the equipment and access to stones.“ Ich nickte. Er half mir, meinen Rucksack aufzusetzen. „Let´s go.“ Es schien jetzt selbstverständlich, dass wir zusammen blieben. Er zog aus der Seitentasche seiner Jacke einen Stadtplan. „Youth hostel is in S-arlotteburg.“ Ich folgte ihm, ohne nachzudenken.
 
Wir unterquerten ein Bahnviadukt. Abrupt drehte er sich zu mir um: „Girl.“ Er hatte mich durchschaut. Ich war technisch keine Jungfrau mehr, aber ein Mädchen. Noch mit keinem Mann (eigentlich waren es alles Jungs gewesen) hatte ich mich erkannt. Wortlos presste er mich gegen die harte Steinwand, löste den Rucksack von meinen Schulter, der glitt mir zwischen die Beine. Mit seinen großen Händen konnte er meinen ganzen Schädel umfassen. Seine Lippen waren hart auf den meinen. Ich öffnete den Mund nicht, aber ich wich ihm auch nicht aus. Das war roh. Dann lockerte er seinen Griff, rückte ein wenig ab. Mit seinen Daumenkuppen strich er mir von den Mundwinkeln aus nach innen. “Pige.“ Seine rauen Finger waren erstaunlich zärtlich. Der nächste Kuss war anders: langsam, lösend, feucht, schließlich richtig nass. Meine Hände suchten den Bund seines Kapuzenpullovers, um darunter zu gleiten. Mit ganzer Kraft versuchte ich seinen Oberkörper zu umfassen, seine Schultern mit den Fäusten wegzupressen. Da stieß er mich von sich. Jetzt sah er mir in die Augen, während seine Hände unter meinen Pullover fassten, meine Brüste umschlossen, seine Hände, die soviel größer waren als nötig dafür. Er drückte brutal zu. Ich schrie auf. „S-till.“ Dann wurde er zart, seine Pranken verwandelten sich in Schmetterlingsflügel. Er zeigte mir, dass er bereit war, indem er mich mit seinem Unterleib an die Wand drückte. Er öffnete die Reißverschlüsse der Hosen, hob mich hoch und drang in mich ein. Mein Rückgrat war senkrecht durchgedrückt an der Wand bis hoch zu Scheitel. Er hielt mich ganz fest. "Stop motion." Über uns ratterten die Züge: Die Bewegungen gegen den Stillstand meines Körpers. Angst, Überwindung, Vergessenheit. Dir. Dir. Dir. Dir will ich gehören.
Später fuhren wir mit der Bahn von Kreuzberg nach Charlottenburg, nahmen uns Betten in der Jugendherberge, in getrennten Schlafräumen für Männer und Frauen. Nachdem wir unsere Rucksäcke in den Spinden verschlossen hatten, suchten wir uns eine Kneipe, um etwas zu essen und zu trinken, unterhielten uns über die Reise, seine Skulpturen, meine Lieder. In schneller Folge entwarf er einige Skizzen auf weißen Servietten, die uns zeigten: am Kanal, unter dem Viadukt, in der Bahn, in der Kneipe. Er nannte sie: „Once knew a girl 1-4“. Die Nacht verbrachten wir auf einer Parkbank. Am nächsten Morgen frühstückten wir in der Jugendherberge, am Mittag tuckerte wir über den Wannsee. Ich lehnte neben Lars an der Reling, unsere Hände über einander, meine verschwanden unter den seinen. „I love your hands.“ „I love your funny mouth.“
Wir schrieben uns beinahe täglich. Aus Dänemark schickte er mir im August eine Kasette mit Liedern: „Berlin“ von Lou Reed, The Velvet Underground and Nico, David Bowie, eine dänische Punk-Band namens Tigge. Im September kam er zu Besuch auf der Durchreise nach Barcelona. Voller Stolz führte ich ihn die Hauptstraße entlang. Genoss das Getuschel der Nachbarn: „´s Anne hat ´n Ausländer. Und en Ohrring trägt der.“ Er durfte bei uns im Hobbykeller schlafen. Meinem Vater gefiel er. Aber er sagte auch: „Bitte nicht unter meinem Dach.“ Also ging ich in der Nacht nicht runter zu ihm. Am Nachmittag nach seiner Ankunft fuhren wir mit den Rädern zur Ruine, wo wir Mike trafen. Mein Freund und mein Geliebter. Wir lagen bis tief in die Nacht zu dritt auf der Burgmauer, die meiste Zeit schwiegen wir. Ein bisschen bekifft waren wir auch. Ich fühlte mich wie Jeanne Moreau in „Jules et Jim“. Aber den Film sah ich in Wirklichkeit erst später.
Auf dem Bahnhof küssten wir uns wie bei ersten Mal unter dem Viadukt. Nur dass wir uns hier nicht trauten, unsere Hosen zu öffnen. Er schrieb mir sieben Postkarten aus Barcelona. Und noch viele Briefe aus Aarhus in Dänemark. Einmal schickte er zwei der Skizzen mit, die er in der Kneipe in Berlin gemacht hatte. Aber ich wusste schon als sein Zug abfuhr, dass ich ihm nicht mehr antworten würde. Ich hatte ihn besser verstanden, als er sich selbst: „Once knew a girl“. Was wir miteinander hatten, war immer Erinnerung.

 

Gottesbeweis (1975)
Ich glaube meistens, dass ich ein glückliches Kind war. Doch täuscht man sich leicht. Einmal, erinnere ich, lag ich im Laub zwischen den Bäumen am Fluss, die Hände auf der Brust gefaltet und wollte sterben. Dann wird es ihnen leid tun, dachte ich. Aber ich weiß nicht mehr, was ihnen leid tun sollte und wem.
Reiner (mit ei „wie reiner Bienenhonig“) zum Beispiel habe ich wirklich gehasst. Ich werde nie vergessen, wie ich mit seiner Schwester auf der heißen Bordsteinkante hocke, die Sirene des Rettungswagens heult noch. Jemand sagt: „Dem Reiner hott´s de holb Hand weg gerisse.“ „Hor e werre experimentiert?“  „So gitt´s.“ Wir schauen uns an, wir wagen nicht zu lächeln oder gar zu lachen, aber wir sind so froh: Dass das wirklich wahr ist. Den ganzen Sommer hatte er uns mit Stromschlägen  gequält, indem er die Türgriffe im ganzen Haus elektrisch auflud; Ratten schlitzte er den Bauch auf, dass die Gedärme aus den zuckenden Leibern der verendenden, wild kreischenden Tiere quollen  und warf sie uns vor die Füße, er band uns an einen Baum und schnitt uns die Haare ab, schnippschnapp, schnippschnapp. Seinetwegen hatte ich mir zur Überraschung meiner Eltern zum Geburtstag einen Chemiebaukasten gewünscht. Ich plante ein tödliches Gift zu mischen, das Elke ihm in den Kakao schütten könnte. Wir hatten keinerlei Gewissensbisse, wenn wir über die Mordpläne  sprachen. Als Reiner an diesem Spätsommernachmittag bleich und mit schon durchgeblutetem Verband um die Hand aus dem Haus getragen wurde, schien es uns, als habe Gott ein Zeichen gesandt. Wir waren erleichtert und erstaunt. Es gab IHN also doch.

Namenlos (1987)
An einem Sommernachmittag im Jahr 1987 saß mein Vater, als ich heimkam, auf der Treppe vor meiner Studentenbude. Sein Anblick erschreckte mich, denn es gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten, unangemeldet aufzutauchen. Er stand auf und legte seine Hände auf den Lenker meines Fahrrades. „Die Oma ist gestorben.“ Ich lehnte mich über das Rad und drückte den Kopf für einen Moment an seine Brust. Dann schob ich das Rad in den Verschlag, während mein Vater mit dem Schlüssel, den ich ihm gegeben hatte, aufschloss. Er ließ sich in den breiten Ledersessel fallen, den ich aus einer Sperrmüllladung am Straßenrand gezogen hatte. „Willst du ´n Tee?“ Ich warf meine Jacke aufs Bett und schaltete den Wasserkocher ein. „Schwarz oder Kräuter?“ „Was du trinkst.“ „Warst du bei ihr?“ „Nein, der Opa hat angerufen." „Ging es ihr schlechter?“ Die Oma hatte seit zwei Wochen im Krankenhaus gelegen. Sie war 85 Jahre alt, eine Grippe hatte sie geschwächt und der Opa schaffte es nicht, sie daheim zu pflegen. „Glaub ich nicht. Sie soll ganz friedlich eingeschlafen sein.“ Das Wasser kochte und ich goss es direkt in die Tassen, in die ich Teebeutel gehängt hatte. Mit den Tassen ging ich hinüber zu meinem Vater und setzte mich auf die Lehne des Sessels. Ich reichte ihm die seine. „Ich glaube, sie war ganz zufrieden.“ Er nahm einen Schluck. „Kommst du am Freitag zur Beerdigung heim?“„Ja.“ Er schaute auf seine Uhr. „Ich muss los.“ Wir drückten uns noch einmal. „Hab dich lieb.“, murmelte ich an seinem Ohr. „Hexchen“, flüsterte er.
Ich nahm die Decke vom Bett und kuschelte mich in den Sessel. Die Oma ist tot. Sie hatte, dachte ich, einen schwachen Eindruck hinterlassen. Selbst ihr Ableben war sanft, kein ekliges Dahinsiechen, kein abruptes Umfallen. Sie hatte es leicht gemacht, wieder einmal, wie alle immer über sie gesagt hatten, dass sie es sich leicht macht und bequem ist. Dort auf dem Dorf, wohin es sie nach dem Krieg verschlagen hatte, wurde auf eine wie sie mit Verachtung geschaut. Sie putzte sich nicht krumm; sie kremte ihre Hände, statt sich Schwielen zu kehren; sie ließ sich die Haare ondulieren, statt einen straffen Knoten zu binden. Bei der Oma gab es immer Süßes und sie war nicht geizig damit. Sie selbst war richtig fett. Alle ihre Enkelinnen haben bis heute den Spruch meiner Tante im Ohr: „Pass bloß auf, dass du nicht nach der Oma kommst.“ So schauen wir nach unseren Hüften und schieben das zweite Stück Sahnetorte weg, so gerne wir´s hätten, denn wir haben Angst, nach der Oma zu kommen und wie sie auf der Treppe zu schnaufen und beim Schuhe binden Hilfe zu brauchen. Doch ihr schien das nie was auszumachen. Manchmal blätterte sie mit mir in einem alten Fotoalbum, darin war das Sepiabild einer schönen dunkelhaarigen Frau im braunen Seidenkleid mit heller Schleife. Das, sagte sie, war ich, als ich jung war. Meinem Spiegelbild abends im Bad machte ich große Augen und einen Schmollmund, um zu sehen, ob ich vielleicht doch nach der Oma kam, wie sie auf diesem Bild gewesen war.
Ich erinnerte mich an den Duft von TOSCA, das Parfüm, das der Opa ihr immer zu Weihnachten schenkte. Wenn ich in den Ferien bei den Großeltern wohnte, kam sie in einem gigantischen, gesteppten und wattierten Morgenrock morgens zu mir herüber, um zu schauen, ob ich noch schlief.  Immer wenn sie sich zum mir aufs Bett setzte, hatte ich Angst, dass es zusammenbrechen könnte und wenn sie schnaufend aufstand, fürchtete ich jedes Mal, sie könnte es vielleicht nicht mehr hoch schaffen. Doch trotz ihrer Fülle bewegte sie sich  im Morgenrock ganz leise und schwebend und ich hörte sie kein einziges Mal stampfen, während die Schritte des schlanken Opas durchs Treppenhaus donnerten.
„Der Franz geht ins Geschäft“, sagte sie. Wenn die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, hatten wir Ruhe. Wir lasen Illustrierte im Bett und aßen dazu Pralinen. Zwischendurch standen wir auf, um den Kanarienvogel zu füttern. (Es müssen, überlegte ich, im Laufe der Jahre mehrere Kanarienvögel gewesen sein. Sie hießen alle Hansi.) Später am Tag, nachdem wir uns schön gemacht hatten (die Oma träufelte ein paar Tropfen TOSCA hinter meine Ohren), gingen wir spazieren oder zum Friseur oder „einholen“, wie sie sagte. Dann spielten wir Karten. Selten schauten wir auch einmal fern, wenn eine alte Romanze im Nachmittagsprogramm gezeigt wurde. Zu Mittag gab es, weil ich es mir wünschte, fast immer Hähnchen mit Pommes aus der Friteuse. Erst am späten Nachmittag musste sie sich ein wenig sputen, um das Abendbrot für den Opa zu richten. Sobald er daheim war, folgte alles festen Regeln: Um sechs wurde zu Abend gegessen, um acht schaute er Tagesschau. Dann spielte er noch eine Runde Rommée mit uns, bevor es Zeit war zu Bett zu gehen. Die Oma und ich lasen, wenn er schon schlief, in den Groschenheften, die sie unter der Spüle versteckte.
Die Erinnerung an sie fühlte sich warm und rosig an; sie roch gut, wenn auch ein bisschen fettig und verstaubt. Mir war nicht nach Weinen zumute, während ich in die Decke gekuschelt, wieder den rosengeblümten Morgenmantel an der Wange fühlte. Die Tränen kamen ganz unerwartet, als ich Stunden später unter der Dusche stand und dachte: „Wie heißt eigentlich die Oma?“ Ich wusste es nicht. Mein Vater und seine Brüder sagten „Mutti“, wenn sie mit ihr sprachen und „die Oma“, wenn sie von ihr redeten. Auch der Opa hatte stets „Mutti“ gesagt. Das traf mich härter als die Nachricht von ihrem Tod: „Ich weiß nicht, wie die Oma heißt.“
(Tatsächlich hörte ich ihren Namen bewusst zum ersten Mal bei ihrer Beerdigung. Sie hieß Hilde.)



Über den Holzweg (1984)

In den Osterferien 1984 fuhr ich mit der Bahn nach Rothenburg ob der Tauber. Auf die fränkischen Gastgeber in der Pension Uhl, wo ich abstieg, fürchte ich, wirkte ich in meiner Jeans-Latzhose, mit dem abgestoßenen Rucksack auf dem Rücken und dem kurz geschnittenen Kraushaar beinahe bedrohlich. Ich wollte auf keinen Fall „mädchenhaft“ erscheinen. Mein Aufzug war darauf bedacht, diesen Eindruck zu vermeiden. Ich war allein unterwegs, auf einer Art Pilgerfahrt, und fürchtete nichts mehr, als von Männern angesprochen zu werden. Eine alleinreisende Frau halten viele Männer für eine, die „zu haben“ ist. Daher setzte ich auf jener Zugfahrt und später in den Cafés und Gaststätten eine düstere Miene auf, wich jedem Blick aus und lächelte niemals zurück. Das fiel mir auch deshalb  nicht schwer,  weil ich  die Nase tief in das Buch steckte, das mich zu dieser Reise veranlasst hatte. Es war die Biographie Hans-Christian Kirschs über Tilman Riemenschneider. Von Kirsch, der auch unter dem Pseudonym  Frederik Hetmann schrieb, hatten viele Sach- und Jugendbücher in den zusammen gewürfelten Bestand der evangelischen Gemeindebücherei gefunden,  in der ich zur Leserin geworden war; vor allem über Amerika, das Land meiner Träume, über Western und Indianerlegenden, über Flower Power und  Revolte, über die Route 66 und die gelben Weizenfelder des mittleren Westens. (Damals hätte ich nie gedacht, dass ich einmal die Weite Amerikas, nach der ich mich sehnte, mit eigenen Augen sehen würde.)
Stattdessen also hatte es mich nach Rothenburg verschlagen, in die engen mittelalterlichen Gassen, die dicht gedrängten Häuser inmitten der wuchtigen Mauern. Ich kam, um zu schauen, ob Tilman Riemenschneiders Holzfiguren mich den Glauben an die Erlösung wiederfinden ließen, den ich verloren hatte. Um es vorweg zu nehmen: Ich fand ihn nicht. Mein naiver Kinderglaube, durch den ich mich trotz aller Zweifel und allen Aufbegehrens geborgen gefühlt hatte in der umfassenden Vergebung des Auferstandenen, er war für immer verloren. Ich ahnte es schon. Doch ich fand in Riemenschneiders Altaraufsätzen etwas Anderes: Mein Thema, das mich in den nächsten Jahrzehnten im Studium und weit über es hinaus beschäftigen würde. Ich hatte damals schon verstanden, dass große Kunst jenseits sozialer Praxis und Parteinahme entsteht. Doch das autonome Kunstwerk und sein Schöpfer, der geniale Künstler, verursachten mir immer noch Bauchgrimmen. Was war von Werken zu halten, die ihre „Schwerverständlichkeit“ als Qualitätsnachweis vor sich hertrugen, was von Künstlern, die ihre eigene Isolation als Abgrenzungsmerkmal benutzen? Ich begriff, dass die Kunst, die zu verstehen ich mich so sehr sehnte, sich auch gegen mich richtete: Indem sie ausgab universell zu sein und zugleich eine Herkunft wie meine leugnete. Dann kam Peter Weiss´ “Ästhetik des Widerstands“: „Ich erinnerte mich, wie mich beim Lesen, beim Betrachten von Bildern zuweilen die Empfindung der Ausweglosigkeit überkam, das ganze Misstrauen gegen eine Welt, die Mühsal und Ekel durch Formen und Farben bezwang.“ Aber ich wusste auch: Weiss eignete sich die Biographie des Ich-Erzählers aus der Arbeiterschicht nur an. Die Stimmen von einer, von einem, die wirklich von dort herkamen, müssten noch anders klingen. Ein weiter Umweg, fühlte ich, war zu nehmen: verstehen, ohne anzuklagen, mitdenken, ohne zu verwerfen, sich einfühlen, ohne Rückhalt – und zugleich sich stets erinnern: woher ich komme, wem ich vertraue, wo ich gebunden bleiben will.
Das hieß, ich hätte das damals nicht formulieren können – und kann es auch heute nur versuchsweise – der Autonomie der Kunst nicht zu vertrauen, sich zurück zu besinnen auf Werke, die noch im Auftrag produziert worden waren oder sich selbst Aufträge gaben, die auf soziale Praxis bezogen blieben.  Immer wieder die Suche nach dem „imaginären Gespräch mit den Toten“, die Spurensuche nach ihren Abhängigkeiten und Anerkennungssehnsüchten, der Versuch ihre Verbindungen und Verbindlichkeiten freizulegen statt ihre autonomen Setzungen zu feiern. Kunst, die (auch) noch Handwerk war,  Literatur, die auf Dialog mit dem Publikum zielte, Musik, die zum Mitsingen und Tanzen einlud. Ein Wissen darum erwerben, was der Preis gewesen war für die kontemplative Schau, das Museum, die Anordnung der Stühle in den Konzertsälen, das Guckkastentheater der Voyeure.  Die Geschäftsmodelle künstlerischer Produktion im Lauf der Zeiten zu verfolgen, machte ich ebenso zu meinem Anliegen, wie die Überprüfung der Wirksamkeit von Kunst in sozialen Zusammenhängen. Doch gleichzeitig wollte ich eine Zugangsweise finden, die sich nicht in platter Sozialgeschichte der Kunst erschöpfte, sondern auch für das je Eigene der Werke offen blieb.
Nichts von alle dem hätte ich damals in Rothenburg, Creglingen oder Detwang aussprechen können. Doch ich stand vor dem Heilig-Blut-Altar und wünschte die Hand auszustrecken nach Johannes, der an der Brust des Zimmermanns ruhte; die Schreiner-Enkelin bewunderte das Spiel der Sonnenstrahlen mit dem Holz, die filigrane Arbeit, die die Adern an den Füßen der Figuren so wirklichkeitsgetreu abbildete; ich schwebte mit der Maria in der Herrgottskirche und bewunderte die Jugend der himmelfahrenden ewigen Mutter; in Detwang überfiel mich die Traurigkeit, die das Ostereignis noch nicht kennt: Alles vergebens, dennoch versöhnt.  Die Riemenschneider dargestellt hatte, waren nicht orientalische Gestalten, die vor mehr als anderthalb Jahrtausenden in den Mauern von Jerusalem ihr Schicksal fanden, sondern fränkische Bauern und Mädgde, ihren Gesichtern und Leibern hatte sich Freude und Leid, Lebenslust und Schmerz aufgeprägt. Er zeigte, wer sie waren oder hätten sein können, seine Arbeiten waren soziale Plastik mit revolutionärer Botschaft: Ecce homo.
Was ist der Mensch, der nicht HERR ist?
(Dass diese Frage auch eine geschlechtliche Implikation hatte, begriff ich erst anderthalb Jahrzehnte später.)



Das erste Mal (1983)
Die Blutschmiere auf dem Laken ist hauchzart, helles Rot, das rosa verbleicht. Das klingt romantisch, als wäre Liebe im Spiel gewesen. Man muss aber wissen, dass das Laken nicht weiß war, sondern aufgehelltes Cadmiumgrün. Ein Primärkontrast, tatsächlich. Ich könnte das bedeutsam aufladen. Es war aber nichts dabei. Rein und raus, eben. Es tat auch fast gar nicht weh.
Ein Entschluss, den ich schon einige Zeit zuvor gefasst hatte: Zeit ist´s. Mit 18 wird allerspätestens entjungfert. Ich war ohnehin Spätzünderin. Als mir im Umkleideraum der Turnhalle das Sängertier an die Brüste gefasst hatte, war mir kaum klar, was sie trieb. Aber ich hatte mir danach immer einen Platz möglichst weit entfernt von ihr gesucht. Das rettete mich nicht.  Einige Monate später, auf der Klassenfahrt, hatte sie mir aufgelauert und  ihren gewaltigen Körper im Stockbett auf den meinen gepresst. Ich glaubte zu ersticken und bemerkte kaum, dass sie mit ihren Wulstfingern versuchte, meinen Hosenbund zu öffnen. Dann kamen die anderen Mädchen herein. Ich schlief keine Sekunde auf dieser Fahrt; ich lehnte nachts an der Wand und lauschte. Aber sie ließ mich in Ruhe, nachts. Tagsüber drängte sie sich in der Schlange im Speisesaal hinter mich und berührte wie zufällig meinen Hintern. Sie war viel weiter entwickelt als die meisten von uns, riesige Brüste, die sie in der Gemeinschaftsdusche lang und ausgiebig einseifte. Man versuchte nicht genau hinzusehen, aber sie erwischte einen immer, wenn man doch mal draufguckte. „Dolle Melonen, was? Neidisch?“ Dann kam sie auf mich zu, ich hielt den Atem an, sie legte eine Hand um meine kleine Brust und drückte zu. Ich quietschte, konnte mich aber wegen des Schocks nicht bewegen. „Süß.“, sagte sie und drehte sich um. Da waren wir 16. Kurze Zeit danach ging sie von der Schule ab, weil sie schwanger war. In der Nacht vor ihrer kirchlichen Trauung randalierte sie mit ein paar angetrunkenen Typen vor meinem Fenster. „Komm raus.“ Ich beobachtete durch die herabgelassenen Jalousien, wie sie ihren fetten Körper auf den Rücksitz eines Mopeds hievte, bevor sie aufgaben und abbrausten.
Nachdem ich auf das Gymnasium in der Kreisstadt gewechselt war, sah ich das Sängertier kaum mehr. Mit einer Freundin, die ich auf der neuen Schule kennengelernt hatte, fuhr ich in den Sommerferien in die Camarque. Wir übernachteten auf Campingplätzen, in billigen Jugendhotels oder in unseren Schlafsäcken am Strand. Dort verliebte ich mich. Wir hatten abends mit Jugendlichen aus München, die wir beim Schwimmen kennengelernt hatten, um ein Lagerfeuer gesessen; ein Kanister Sangria kursierte, jemand spielte Gitarre. Zwischen Imke, die Freundin, und mich setzte sich ein schlaksiger Junge, dem eine dunkle Haartolle tief in die Stirn fiel, die er immer wieder mit der Hand zurückstrich. Er legte uns die Arme um die Schultern und zog uns enger an sich, eine links, eine rechts. Mein Körper reagierte; ich gab ein wenig nach und rutschte tiefer an ihm herunter. Ich dachte: „Aber Imke gefällt er auch.“ Sie hatte mir das noch am Nachmittag gesagt. Er flirtete, machte Witze und erzählte ihr von seiner irren Fahrprüfung, während er meine Hüften streichelte. Ich fühlte, dass Imke näher an ihn heranrückte und sah, wie sie ihre Hand auf seine legte. Ich versuchte unauffällig ein wenig abzurücken. Da drehte er sich ruckartig zu mir rum und küsste mich hart auf den Mund. Im ersten Moment presste ich die Lippen fest zusammen, aber seine Hände glitten warm über meinen Rücken, alle beide, und dann öffnete ich mich. Später suchten wir uns eine Sandkuhle etwas ab vom Lagerfeuer. Wir fielen übereinander her, betrunken wie wir waren, dennoch hatte ich die Geistesgegenwart ihn zurückzuhalten, bevor er eindrang. „Ich nehme nicht die Pille.“ Er seufzte. Nur kurz. Dann zeigte er mir, was sonst noch geht, mit den Händen und Lippen. Am Ende ließen wir den warmen Sand durch die Hände auf unsere Körper rieseln.
Seine Name war Remy. Wir schrieben uns sehnsüchtige Briefe. Dann verliebten wir uns in andere. Das schrieben wir uns auch. Die Briefe wurden seltener. Ich beschloss, dass es jetzt Zeit sei. Meine Frauenärztin gab mir ein Rezept für die Pille. „Das kriegen wir schon hin. Ist doch nicht o.k., dass ihr jungen Frauen dafür bezahlen sollt.“ Der Nächste also sollte es sein. Er war ein guter Küsser. Dass ich noch Jungfrau war, überraschte ihn. Aber erst hinterher, als er das Blut sah; ich hatte ihm das nicht gesagt. Ich glaube, er fühlte sich in dem Moment sehr geliebt. Doch ich überlegte schon, wie ich ihn los werden konnte. Es war nicht so schlecht, aber ich erkannte, dass ich noch viel lernen musste - und dass ich es nicht mit ihm lernen wollte. An Remy schrieb ich: „Mit dir wäre es schöner gewesen.“ Er antwortete nicht.

Das zornige Mädchen (1969)
Den ersten heftigen Wutausbruch hatte sie, als es ihr nicht gelang das helle Band mit den Goldfäden ins Haar zu flechten. Im polierten Schlafzimmer der Eltern lehnte ein mannshoher Spiegel auf der Kommode. Als das Schleifchen sich nicht binden ließ, schubste sie ihn mit den kleinen Händen zu Boden und trampelte auf den Scherben. Fassungslos sah die Mutter von der Tür aus das kleine Rumpelstilzchen toben. Der Vater wurde des Unglücks gewahr, als sie an der Mutter vorbei hinaus drängte, nicht ohne der noch einmal kräftig vors Schienbein zu treten. Es folgten Rufe des Entsetzens über die sinnfreie Zerstörungstat, Vorwürfe an das unbeherrschte Kind und vor allem die Forderung, sich zu entschuldigen. Das Kind aber schob die Unterlippe vor und stemmte die Hände in die Hüften, sein bisschen Gewicht auf die Fersen legend. Da könnt ihr lange warten. Als der Vater sie greifen wollte, schlug sie nach ihm. Die Mutter trat näher hinzu und streckte die Hände aus. Sie fauchte und hob die Fäuste wie ein Boxer vor das Gesicht. Schließlich packte der Vater sie um die Hüfte und trug sie unter dem Arm gesteckt wie ein Paket in den Keller.  Warum hast du das bloß gemacht? Bitte die Mama um Verzeihung. Sie brachte nur ihr Nein heraus. Das Unbegreifliche der Tat, die Schwere des Unrechts, die Unmöglichkeit, sich selbst zu verzeihen, versteiften den Trotz. Nein. Der Vater hatte Tränen in den Augen. Dann musst du hier unten bleiben. Er schloss die Tür hinter sich. Ihr Körper bebte. Eine Welle stieg ihr zu Kopf, eine Woge aus Zorn, Kraft, Trauer und Angst. Mit dem Fuß kickte sie einen Kübel weiße Farbe um, die sich rasch auf dem Kellerboden ausbreitete. Jetzt war schon alles egal. Sie kippte den Farbeimer mit beiden Händen aus und schwenkte ihn herum. Mit den Füßen verteilte sie die Farbe über den Boden, mit den Händen beschmierte sie die Wände. Sie weinte lautlos dabei. Ihr Körper zuckte in wortlosem Entsetzen, bis sie erschöpft eingerollt wie ein Embryo einschlief. So fand sie der Vater und trug sie hinauf in ihr Bettchen. Als sie schluchzend erwachte, hielt er sie fest in den Armen. Es tut mir so leid. Das war kaum zu verstehen.



LEHRREICH (2004)


Nach den Sommerferien übernahm ich den Lehrauftrag für eine Gruppe von harten Jungs, die schon ziemlich viel vergeigt hatten in ihrem kurzen Leben. An diesem Tag saßen sie schwitzend mit nackten Oberkörpern in der Hitze eines heruntergekommenen Schulsaals. Es lief von Anfang an alles schief. Statt die Tür mit Schmackes aufzureißen, linste ich hinein und fragte blöd, ob ich hier richtig sei. Dann probierten sie einiges aus. Zwei warfen einander den Papierkorb zu, den sie aber nach dem dritten Hinundher schon nicht mehr in der Luft halten konnten. Die Sauerei auf dem Boden beachteten sie nicht, sondern machten gleichgültig weiter. Einer saß gemütlich im Fenster und rauchte. Zwei andere hatten eine „Schiffe versenken“-Variante aufs Pult geschmiert und spielten konzentriert mit einem aufgestellten Mathebuch zwischen sich. Einer kratzte sich im Schritt und einer stand vor dem Spiegel und gelte sich die Haare. „Isch glaub,´ die Frau will was uns“, schrie ein Langer mit dunklen Koteletten in Adidas-Traininghose, der hinter mir die Tafel unter Getöse hoch und runter knallte. Die meisten schenkten mir keine Beachtung. Einige verfolgten meine Reaktion aus den Augenwinkeln. Nur ein blasser Rothaariger sah mich immer wieder direkt an, abwechselnd mit dem kleinen Ball, den er rhythmisch gegen die Decke warf.

Erfahrung hatte ich gar keine. Am liebsten wäre ich rausgerannt, hätte mich in eine Ecke gesetzt und geheult. Das waren keine Jungs, denen man mit Eintrag ins Klassenbuch, Mahnung oder gar schlechten Noten hätte drohen können. Ich zog die Namensliste aus meiner Tasche. „Wer von euch ist denn der Manuel?“ Keiner meldete sich. Ich sprach den Kerl direkt an, der an der Tafel stand. „Manuel?“ Er deutete auf einen Kleinen mit weißer Hühnerbrust ganz hinten in der Ecke. Ich setzte einen Haken neben den Namen. „Und du?“ „Was?“ „Wie heißt du?“ „Wolfgang.“ Es gab keinen Wolfgang auf der Liste. Ein paar ganz vorne, die es mitgekriegt hatten, kicherten. „Tag, Wolfgang.“ Ich setzte einen Haken neben irgendeinen Namen. „Und du?“ Jetzt hatten sie einen Dreh gefunden. „Herbert.“ „Genau, Herbert.“ Noch ein Haken. Es wurde stiller. Die Verarsche wollte sich keiner entgehen lassen. Ich nickte dem nächsten aufmunternd zu. „Erwin.“ „Ah, der Erwin.“ Wieder ein Haken. „Könnt ihr euch Namensschilder machen?“ Die noch standen, setzten sich. „Haste e´n Blatt?“ Nicht alle hatten Schreibzeug dabei. Darauf hatte mich der Kollege vorbereitet. In der Tasche hatte ich Blätter und Stifte, die ich verteilte. „Schreibt groß, so dass ich´s von vorne gut lesen kann.“ Na klar: die schönsten Namen, in schönster Schrift: Anton, Wilhelm, Hansi. Der Rothaarige hieß Kunibert. Den größten Erfolg hatte der Adolf, selbstverständlich. Ein paar Arme flogen zum angedeuteten Hitlergruß. Das ignorierte ich. Erstmal. Adolf. Auch abgehakt. Sie konnten es nicht fassen. Wie blöd ist die denn? Als ich durch war, sagte ich: „Prima, sind ja alle da.“  und klappte meinen Ordner zu. „Was für´ne Liste haben Sie denn da?“ Jetzt wurden sie misstrauisch, Wolfgang am meisten. „Na, die Klassenliste. Also die Frau Berger hat mir gesagt, ihr hättet mit ihr Bewerbungsschreiben geübt.“ Jetzt ging es durcheinander: „Was´n das für ne Klassenliste?“ „Die Frau Berger, ey...“ „Die will uns verarschen.“ „Was geht ab?“  Ich schaute einem nach dem anderen in die Augen. Wolfgang. Erwin. Anton. Kunibert. Manuel. Wilhelm. Adolf. „Die Frau Berger hat  doch vorher bei euch Deutsch unterrichtet. Das ist halt meine Liste. Mit Adolf und Wilhelm. Und wie sieht´s aus mit den Bewerbungsschreiben?“ „Voll Kacke.“, sagte Wolfgang. „Bringt null Bock.“  „Heiß heute“, sagte ich und ließ den Blick über ihre nackten Oberkörper schweifen.  Einige versteckten ihre Bäuche hinter den Tischen, andere reckten sich hoch. „Können Se laut sagen.“ „Heute machen wir keine Bewerbungen.“ „Und was machen wir dann?“

„Ich muss erstmal raus kriegen, wie schlau ihr eigentlich seid.“ „Voll schlau.“ „Mannomann.“ „Arschloch.“ „Und wie wollen Se das rauskriegen?“ Ich warf den Overhead-Projektor an und legte eine Folie auf. „Was´n das?“ „Ihr habt genau 10 Minuten, das zu lösen. Vielleicht seid ihr ja auch schneller. Wenn ihr so schlau seid.“

DER CODE
Ein Spion wurde eines Tages losgeschickt um eine feindliche Stadt auszuspionieren. Als er am Haupttor ankam musste er feststellen, dass man die Stadt nur mit einer Art "Codewort" betreten konnte, denn vor dem Tor stand ein Wächter. Er legte sich also auf die Lauer, um dieses Codewort herauszufinden.
Zuerst kam ein Händler. Der Wächter sagte ihm eine Zahl: "Sechzehn." Darauf antwortete der Händler: "Acht." Er durfte die Stadt betreten.
Wenig später kam ein Soldat. Wieder nannte der Wächter eine Zahl: "Acht." Der Soldat sagte: "Vier." Auch er durfte passieren.
Nun kam eine alte Frau, die ebenfalls in die Stadt wollte. Nachdem der Wächter "Achtundzwanzig" gesagt hatte antwortete sie mit: "Vierzehn." Als auch sie in die Stadt gehen durft,e war sich der Spion sicher, dass er die Lösung wusste.
Er ging zum Wächter hin. Dieser sagte: "Vierzehn." Der Spion antwortete: "Sieben." Sofort wurde er verhaftet.
Was hätte der Spion antworten müssen und warum?

„Spion ey“, „Was für´n Scheiß.“, „Menno“, „So´n Kack.“, „Klappe“. Ich zog die Folie vom Deckel. „Okay, ich seh´s ein, das ist zu schwer für euch.“ „Nee, legen Se mal wieder auf.“ „Ich krieg das raus.“ „Angeber.“ „So ein dämlicher Spion, echt.“ „Jetzt seid mal still. Ich muss nachdenken.“ „Alter.“ Ich zog  meine Uhr ab und sagte laut: „Ab jetzt noch genau 10 Minunten. Wenn´s keiner kann, müssen wir runter mit dem Niveau.“ „Niiiiiiwwwwoooooo! Hörste.“ „Des Niiiiiwwwoooo.“ „Ruhe jetzt.“ Sie dachten nach, kratzten sich, schlugen auf die Tische. „Scheiß.“ Nach genau 1 Minute 32 sec präsentierte Kunibert die Lösung. „Ach so.“ „Na klar.“ „Hätte ich auch gewusst.“ „Noch eins?“ Das fragte Hansi. Und dann ging es los. Ich hatte noch ein paar Rätsel dabei. Meistens war Kunibert der Schnellste. Ich bekam Angst, dass mein Vorrat nicht reichen würde, so gut war der. Aber er konnte nicht gut erklären. Das machte Wolfgang. Der kapierte schnell, wenn er die Lösung gesehen hatte.

Die Stunde ging rum. Ich kam lebend raus. Auf dem Lehrplan stand nix von Logikrätseln. Aber sie waren nicht doof. Konnten lesen und schreiben. Sich nicht benehmen. Oder konnten es und hatten keine Lust dazu. Beim nächsten Mal waren sie ein wenig ruhiger, als ich rein kam. Ich las die Namensliste vor: Kunibert, Adolf, Wolfgang... „Mensch...“ Wolfgang sagte: „Ich bin der Ömer.“ „Okay. Ömer.“ Dann las ich die richtigen Namen vor. Machte Fotos von ihnen. „Cool.“ „Ham Se wieder Rätsel mit?“ Klar. Diesmal waren sie komplexer. Wir bildeten Teams, die miteinander konkurrierten. Sie waren ziemlich ehrgeizig. Das ging drei, vier Male  so.

„Machen wir gar kein Deutsch mehr?“, fragte irgendwann Ömer. „Wollt ihr?“ „Nö, eigentlich nicht.“ „Wir könnten was zusammen lesen.“ „Nee, nee. Die Berger hat so Scheiß-Geschichten mit uns gelesen.“ „Echt, so ein Scheiß.“ Auf dem Tisch vor Edin lag eine BILD-Zeitung. Foto eines zertrümmerten Autos in Kabul. Schlagzeile: „Deutscher Soldat von Mine zerrissen.“ Ich tippte mit dem Finger drauf. „Was ist damit?“ „Ey, den interessiert doch nur die Olle mit den Titten.“ „Scheiß drauf.“ „Terrorismus oder Freiheitskampf?“, fragte ich. „Das sind so Schweine“, sagte Manuel leise. „Fick dich. Bloß weil dein Bruder bei der Bundeswehr ist.“ „Wenn die hierher kämen, würden wir uns auch wehren.“ „Die Arschlöcher haben die Towers in die Luft gejagt.“ „Wir sind im heiligen Krieg.“ Ömer sprang auf. Das wurde hitzig. „Wollen wir darüber lesen?“ „Worüber?“ „Freiheitskampf oder Terrorismus. Gerechte Kriege und so.“ „ So Zeitung oder wie?“ „Nee, ein Theaterstück.“ „Was´n das?“ „Schiller: Wilhelm Tell.“ „Kenn ich nicht.“ „Das lesen die auf´m Gymnasium.“ „Das is´ so ´nen olles Ding.“ „Kapieren wir eh nicht.“ „Wenn sie denkt ,wir können´s...“ „Wir sind Abschaum.“ Das hatte Manuel gesagt. Ömer wiederholte es:  „Genau. Wir sind Abschaum.“ „Ich hätte Lust, das mit euch zu lesen. Wenn ihr wollt. Es wird schwer, denk ich. Es ist in einer anderen Sprache geschrieben, als die, die ihr kennt.“ „Nicht in Deutsch?“ „Doch. Aber es ist vor 250 Jahren geschrieben worden.“ „Das ist zu hoch für uns.“ „Wir können es ja probieren.“ „Na ja.“

Beim nächsten Mal hatte ich einen Klassensatz Reclamhefte dabei. Aber ich rückte sie nicht gleich raus. „Was wisst´n ihr über die Schweiz?“ „Käse.“ Ich ließ sie ihre Schweiz darstellen als Guckkasten in Schuhkartons, lauter kleine Idyllen: See mit Bucht, hohe Berge mit Schneegipfeln, grüne Wiesen im Sonnenschein. Da hatten wir Schillers „hohes Felsenufer am Vierwaldstättersee“. Personenregister: „Kuoni. Ich kack ab.“ „Stüssi, der Flurschütz.“ „Ey, ich bin Rudolf der Harras.“ „Und Ömer ist Bertha von Bruneck.“ Edin machte eine obzsöne Geste.“ „Der Stier von Uri.“ „Geil.“„Was für´n Kack.“ „Wie schwätzen denn die daher.“ „Krass. Voll krass.“ Gejodel. „Da werd´ ich zum Terroristen, wenn ich des les.“ „Osama!“ Sie verstanden kein Wort. Aber es gab einiges zu lachen: „Drauf hab er Ungebührliches von ihr
verlangt, sie sei entsprungen, mich zu suchen.
Da lief ich frisch hinzu, so wie ich war,
und mit der Axt hab ich ihm 's Bad gesegnet.“ „Sie is em entsprungen.“ „Fuck. Fuck. Fuck.“ „Worum geht´s denn da?“, fragte ich. „Kein Schimmer.“ „Die sitzen am See rum und singen so´n Scheiß und dann kommen der andere Typ angerannt.“ „Und gleich gibt´s auch noch ´nen Gewitter.“ „Wie im schwulen Horrorfilm.“ „Aber oberschwul.“ „Genau. Das sind die gleichen Tricks wie im Horrorfilm.“, sagte ich. „Haben die alles bei Schiller abgekupfert.“ „Echt?“. „Na, der hat´s auch schon geklaut.“ „Ganz olle Tricks.“ „Schwul  halt.“ Ich gehe drüber weg. Jetzt. Erstmal. Menno. „Baumgarten heißt der. Der Typ, der angerannt kommt. Den sie verfolgen.“ „Genau. Und was ist dem passiert?“ „Der hat einen erschlagen.“ „Schänder seiner Ehr und seines Weibes, hehe.“ „Und bereut er´s?“ „Nee, kein bisschen. Jeder hätt´s getan, sagt er.“ „Und warum?“ „Wegen der bös´ Gelüsten.“ „Was?“ „Na, der war scharf auf dem Baumgarten seine Frau.“ „Was ist denn da genau passiert?“ „Der war außer Haus, der Baumgarten. Und der andere Kerl hat seiner Frau gesagt, sie soll ihm ein Bad rüsten.“ „Was???“ „Keine Ahnung. Ein Bad einlaufen lassen vielleicht.“ „Es gab noch kein fließend Wasser aus der Leitung. Die musste dem das in Eimern bringen und warm machen vorher, natürlich.“ „Der wollt sich von ´ner Frau das Wasser anschleppen lassen?“ „Was´n  das für ´ne Type?“ „Und dann wollt er noch ´Ungebührliches´ von ihr.“ „Der wollt´ se ficken. Is doch klar. Wenn der Alte außer Haus ist.“ „Aber schleppt die dem überhaupt das Wasser ran.“ „Warum macht´n die das?“

Es dauerte. Wir lasen „Wilhelm Tell“ fast ein halbes Jahr. „Mit der Axt das Bad segnen“ wurde zum geflügelten Wort. Allerlei Drohungen konnten damit aufgepuscht werden. Ein paar Szenen spielten wir auch. Das fiel ihnen schwer, vor allem das Auswendiglernen. Wir hatten viel Spaß dabei. Und zankten uns oft. Wir waren konzentriert und laut, abgelenkt und verstört, ärgerlich und lustig. Jedenfalls kamen sie fast immer pünktlich. Wir interpretierten das Stück auf unsere Weise, ohne das jemals eine Interpretation geschrieben wurde. In den letzten vier Wochen des Halbjahres schrieben sie auch ihre Bewerbungsschreiben, die ich redigierte und korrigierte. Sie hatten eh kaum eine Chance ohne Abschluss. Wir einigten uns nicht, was die Frage nach Terrorismus oder Freiheitskampf anging. Die Vergleiche waren schief und das merkten sie auch: die Afghanen waren nicht die Schweizer und die Besatzer nicht die Kaiserlichen Truppen. Karim erzählte mir von Ahmad Massoud, der an 9/11 ermordet worden war. Er verehrte ihn wie einen Helden. Massoud, dachte Karim, hätte die Afghanen zu einem Rütli-Schwur vereinen können. Ich war nicht überzeugt. Nicht alles, was ich über den „Löwen von Panshir“ erfuhr, gefiel mir.

Mein Auftrag endete mit dem Halbjahr und wurde nicht verlängert. Sie schenkten mir zum Abschied einen riesigen Blumenstrauß. Das ist jetzt sieben Jahre her. Gelegentlich treffe ich einen von ihnen am zentralen Busbahnhof. Manuel und Edin haben einen Hauptschulabschluss geschafft und eine Lehre abgeschlossen. Ömer jobt in der Dönerbude seines Onkels. Manche sitzen im Knast. Oder saßen. So genau kriege ich das nicht mit. Sie sind immer freundlich und höflich zu mir. Ich habe mehr von ihnen lernen können als sie von mir.





DER MOGI.  (“Es war pures Gold.”) (1973)


Die Mogis  tauchten Anfang der siebziger Jahre im Zuge der Schulreform auf. Sie kamen mit dem Halbacht-Uhr Bus an der alten Schule im Mittelweg an. Dieser Bus brachte, nachdem ihre Zwergschulen geschlossen worden waren, die Eingemeindeten aus Detmoll und Arlingen. Die Mogis aber waren gegen unseren „Bergbauern“-Spott immun. Die Dettmoller und Arlinger bezogen nämlich, obwohl ihre Äcker nur unwesentlich höher über dem Meeresspiegel lagen, auf der Basis einer unbegreiflichen, aber wirkungsvollen EG-Agrarregelung Bergbauernzuschüsse, die uns vorenthalten blieben. Wir hatten aber auch etwas davon, denn mit dem Wort „Bergbauer“ konnten wir unserer alteingesessenen Verachtung gegenüber den Dettmollern und Arlingern neuen Ausdruck verleihen. Über die Mogis dagegen sprach man nicht. Es war allerdings bekannt, dass sie aus keiner „richtigen“ Familie kamen.

Jeder Jahrgang hatte seinen Mogi. Zum Schuljahresanfang kletterte unvermeidlich ein neuer, kleiner Mogi aus dem Bus vor der alten Schule. Ihre Vornamen hatten wir entweder nie gehört oder stets vergessen. Sie sahen sich alle gleich: mit ihren roten Haaren und den breiten, gemeinen Gesichtern. Wir fürchteten sie, denn die Mogis schwiegen sich aus, aber es war ihnen alles zuzutrauen. Auf dem Schulgelände blieben sie unter sich, bevor sie den Halbzwei-Uhr-Bus zurück nahmen. Wir fürchteten sie mehr aus Prinzip, denn aus Erfahrung.

Deshalb war es so schockierend, dass eines Nachmittags in den Ferien, als Regine und ich unterhalb des Wehres saßen, über der Hügelkuppe das stumpfe, sommersprossige Gesicht eines Mogis auftauchte. Wir hatten zu Mittag gegessen, um uns dann gegen drei, wie immer in diesem Sommer, die Rollschuhe anzuschallen. Über die Ringstrasse und die Wilhelminengasse rollten wir zum Fluss hinunter. Wir liebten das Geräusch des rauen Asphalts unter unseren Rollen, besonders die Schotterstraßen, wo das Surren der Räder in rhythmisches Rattern überging. Wir hatten auf dem Sportplatz vorbeigeschaut und an der Springgrube, ob etwas los war, aber dazu war es zu heiß an diesem Sommertag. Es sind wohl alle ins Schwimmbad gegangen, dachten wir. Wir kletterten, noch mit den Rollschuhen an den Füßen, die Böschung zum Wehr hinauf. Auf der halbfertigen Betonrampe oberhalb davon zogen wir sie aus und stiegen über die großen Kieselsteine hinunter ans Wasser. Die Steine unter unseren Hintern waren heiß und wir rutschten hin und her, während wir mit den Füßen im Wasser plätscherten. Oberhalb der Rampe erschien jetzt die volle Gestalt des Mogis. Von unten wirkte sein verkürzter Körper noch plumper als sonst. In seinen Händen hielt er links und rechts unsere Rollschuhe.

Mit ausdruckslosem Gesicht registrierte er, dass wir ihm schockstarr dabei zusahen, wie  er sich langsam vornüber beugte, um die Rollschuhe auf die abschüssige Rampe zu setzen. Er fühlte seine Macht, aber sie schien ihn nicht sehr zu freuen. Wir würden ihm nicht zu nahe kommen, das war ihm klar. Ich glaube nicht, dass er uns quälen wollte, aber es musste ein gutes Gefühl für ihn sein, dass auch wir einmal stumm waren und nicht mit den Fingern schnippten wie in der Schule, wenn die Lehrerin eine Frage stellte. Da saßen wir und würden zuschauen müssen, wie unsere Rollschuhe über die holprige Rampe ins Wasser rollten und vielleicht gefiel ihm diese Vorstellung. Wir rührten uns nicht. Wenn der Mogi die Rollschuhe im Fluß versenkt hätte, wäre unser Sommer vorüber gewesen. Es war unvorstellbar, dass wir unser Reich zu Fuß halten konnten.

„Das ist pures Gold.“ Die Stimme war hoch und schrill, selbst am Ende senkte sie sich nicht. Alle drei zuckten wir zusammen. Wer hatte das gerufen? Ich war es gewesen und ich hatte keine Ahnung, worauf ich hinaus wollte. Ich wiederholte den Satz noch einmal, langsamer: „Das ist pures Gold.“, mit Nachdruck diesmal auf dem GOLD. Der Mogi hatte sich aufgerichtet. Die Entfernung der Rollschuhe von der Rampe war größer geworden. Nun machte ich keine Atempause mehr, sondern sprudelte los. Er, der Mogi, sagte ich, irre sich total, wenn er glaube, die Beschläge der Rollschuhe und die Räder seien aus Messing oder so was, was er sich vorstelle, das seien Spezialanfertigungen. „Alles Gold. Die Beschläge, die Kappen, die Räder.“

Er spürte seine  Niederlage sofort. Regine hatte geschwiegen, wie er geschwiegen hatte, und er hätte die Rollschuhe versenken können, wenn er nicht zu langsam gewesen wäre, wenn er nicht gewartet hätte, bis ich sprach. Die Zunge muss trocken gewesen sein in seinem Mund, so ungeübt war er darin, sie zu bewegen, um Worte zu bilden. Er räusperte sich. Ich denke, normalerweise schwieg er, ohne es zu merken. Jetzt aber steckte ihm sein Schweigen wie ein Kloß im Hals, er verschluckte sich beinahe daran, er wollte es brechen. Er sah hinunter zu uns, zu den Steinen, da war noch Platz, es war doch möglich, dass er sich neben uns setzte und mit uns aufs Wasser sah und vielleicht etwas sagte oder nur zuhörte, was wir redeten. Er machte zwei Schritte auf uns zu. Ich quatschte ununterbrochen weiter. Das sei freilich ein Geheimnis, er solle das für sich behalten, wir wollten ja nicht angeben. Das müsse ja niemand wissen, dass die aus Gold seien, unsere Rollschuhe.

Jetzt fiel ihm etwas ein und er presste es heraus: „Habt ihr auch einen Swimming Pool?“ Dann setzte er sich einige Meter von uns entfernt auf die Steine und stellte die Rollschuhe ab. Regine begann wieder mit den Füßen im Wasser zu plätschern. Na klar hätten wir einen Swimming Pool, sagte sie. Und fing an aufzählen, was wir noch alles hätten, weil wir doch Millionärstöchter seien. Der Mogi wiederholte das Wort: „Millionäre.“ Sonst sagte er nichts.  Er saß einfach da, stützte die Hände auf die Knie, hörte zu, wie wir unser Millionärsmärchen weiter und weiter spannen, und sah traurig aus.

Ich weiß nicht  mehr, wie der Nachmittag endete. Wahrscheinlich gingen wir einfach und ließen ihn sitzen.Als die Sommerferien vorüber waren, sahen wir den Mogi auf dem Schulhof. Wir fühlten uns schuldig. Deshalb schauten wir an ihm vorbei. Der Mogi dagegen beobachtete uns aus den Augenwinkeln und stellte sich manchmal weg von seinen Brüdern in unsere Nähe. Vielleicht bedauerte er, dass er die Rollschuhe nicht die Rampe hatte hinunter rollen lassen. Spätestens im Herbst verschwand er für uns wieder in der Horde ununterscheidbarer Mogis, die in den Pausen zusammen standen und sich anschwiegen. Zwei Jahre später war unsere Grundschulzeit zu Ende und keiner der Mogis tauchte auf der Gesamtschule auf, an die wir wechselten. Aber ich vergesse nie den rötlichgoldenen Glanz der Haare des Mogi an jenem Nachmittag am Fluß.



“NO WAY”. (ES WAR LIEBE) (2005)

„Er hat dem Kind in den Mund gepisst.“, sagt Gerald und legt das Foto vor mir auf den Tisch. „Hier.“ Ich muss mich setzen. „Die Fotos“, er legt noch zwei dazu, „hat er selbst gemacht.“ „Wir reden von demselben Mann?“, frage ich. „Da bist du sicher?“ „Da bin ich sicher. Ich hatte ihn hier. Mehrere Jahre.“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Gehirn produziert lauter Fragen, die durcheinander stolpern; ich kriege den Mund nicht auf, weil nur Satzanfänge herauskämen, jetzt, ohne Ende: wie, wann, wen, wie oft, weshalb, war er, hat er, wollte er, gab es? Kann er sich nicht geändert, soll ich, woher weißt du, was kann denn? Gerald schaut mich an. Ich brauche keine Fragen stellen. Er gibt mir die Antworten, von denen er weiß, dass sie nicht genügen können.

„Ein Pädophiler. Hochintelligent. Hat hier eine Art inoffizielle Rechtsberatung für Mitgefangene aufgebaut. Sehr charismatisch. So macht er sich auch an die Jungen heran. Geschickt in der Auswahl seiner Opfer. Jungs, die nach Bestätigung suchen. Vaterlose Jungen, manchmal. Jungs, die keinen Halt finden. Zieht sie in eine Beziehung. Bis der Missbrauch beginnt, sind die so verstrickt, dass sie viel zu verlieren haben, wenn sie ihn anzeigen. Er redet von Liebe.“

Er redet von Liebe, denke ich. Zu Bine hat er auch von Liebe geredet. Was es ihm bedeutet, dass sie zu ihm steht. Dieser Neuanfang, den sie ihm ermöglicht. Er wirkt so dankbar, fast demütig, wenn er von Bine spricht. Wie er ihr die Tür aufhält, wie er sich um ihre Drinks kümmert, wie er sie zärtlich am Arm berührt. „Er ist scheu“, hat Bine gesagt, „im Bett, meine ich.“ Im Bett. Sie schlafen nebeneinander, habe ich geschlossen, wie Brüderchen und Schwesterchen. Ich habe das nicht verstanden, wieso Bine sich auf so was einlässt. Aber ihr ist das ganz recht, erstmal, hat sie gesagt, weil es doch klar sei, welche Hemmungen er noch habe, haben müsse, nach so einer langen Zeit ohne Frau, sie wolle das langsam angehen, sie fühle sich sehr geschätzt, auch als Frau anerkannt, selbst wenn dieser Teil der Beziehung, das sagte sie wirklich, „noch ausbaufähig“ sei.

Ich schaue auf die Bilder vor mir. Das mit Sperma voll gespritzte Gesicht eines sommersprossigen Jungen, auch die gegelten Haare sind zugekleistert mit der gelblichen Pampe. In den Augen scheinen ihm Tränen zu stehen. Oder bilde ich mir das ein? Auf einem anderen Foto sitzt der Junge mit heruntergelassener Hose auf einem Sofa, die Hand an seinem erigierten Glied und starrt mit aufgerissenen Augen in die Kamera. Es ist ein schmaler Junge, der fast ein bisschen verhungert wirkt, mit einer trotzigen Unterlippe.

„Er ist nicht der Einzige gewesen.“, sagt Gerald. „Und das sind auch nicht die härtesten Aufnahmen. Ich darf dir die gar nicht zeigen. Das ist dir klar, nicht wahr? Aber als ich dich mit dem in der Stadt gesehen habe...Du hast ja auch Söhne. Ich dachte, du musst das wissen.“

Ja, ich muss das wissen. Ich muss wissen, dass der neue Lebensgefährte meiner Freundin ein pädophiler Wiederholungstäter ist. Ein Mann, der seit zwei Jahrzehnten kleine Jungen missbraucht, Jungen zwischen neun und vierzehn Jahren, wie Gerald mir erklärt, Jungen, zu denen er eine freundschaftliche Beziehung aufbaut, bis sie nur noch ihm vertrauen, die er dann dazu bringt, vor seinen Augen und seiner Kamera zu onanieren, um sie mit diesen Bildern zu erpressen. Danach kann er mit ihnen machen, was er will. Es geilt ihn auf, ihnen in den  Mund zu spritzen, sie voll zu pissen, manchmal auch sie zu schlagen. Zwischendurch ist er zärtlich, geht mit ihnen ins Kino, macht Geschenke. Er spricht von Liebe. Er hat, sagt Gerald, bei jedem Jungen von Liebe gesprochen. Zuletzt war er sieben Jahre im Knast.

„Sehr angepasst. Hat sich an alle Regeln gehalten.  Gefangenenrechte, das war sein großes Thema. Auch zu mir hat er Kontakt gesucht. Sehr höflich, sehr zugewandt, sehr genau meine Anliegen aufgreifend: mehr Bildungs- und Kulturangebote für Gefangene, verbesserte Kontaktmöglichkeiten, offene Wohngruppen. Über seine Delikte haben wir nie gesprochen. Das ist ein Gesetz hier: Man fragt nicht nach den Gründen, warum einer hier ist. Nur wenn einer von selbst reden will. Bis die Psychologin mir sagte: Schau dir seine Akte, bevor du dich mit ihm einlässt.“

Ich will Einwendungen machen. Hat nicht jeder eine zweite Chance verdient? Sagt das nicht gerade Gerald immer? Muss das nicht auch für diejenigen gelten, deren Taten wir besonders abstoßend finden? Ich hatte doch auch Mitleid mit demFliesenleger, der seine Stiefmutter erstach. Warum fühle ich einen Eisklumpen an meiner Herzspitze, so kalt, dass ich den hier töten könnte, wenn ich dran denke, wie er seine Hand auf Bines Schenkel legt? Er hat es Bine gesagt, dass er im Knast war. Hat er Bine gesagt, weswegen er drin war? Ich weiß es nicht. Man fragt eben nicht nach, wenn der andere nicht von sich aus redet. Man will ihn nicht in die Enge treiben, der hat doch schon genug durchgemacht, was man sich nicht vorstellen kann. Man ist doch liberal und will auf keinen Fall wirken wie die Idioten, die jeden brandmarken, der mal im Knast war. Er engagiert sich sehr gegen staatliche Repression. Er hat einen Vortrag gehalten im Autonomen Zentrum gegen die Methoden des Überwachungsstaats. Da waren wir sehr einverstanden. Guter Redner, übrigens.

„Mehrere Gutachter haben ihn untersucht. Sie sind alle zu demselben Ergebnis gekommen. Er hat keinerlei Schuldbewusstsein. Seiner Ansicht nach haben die Jungen ihn verführt mit ihren Blicken und Gesten, die er, um das zu dokumentieren, fotografierte. Er gilt als hochgradig gefährlich. Die meisten Gutachter halten ihn für nicht therapierbar. Die Frage stellt sich aber nicht, weil er eine Therapie ablehnt. Es war Liebe, ist sein Standardspruch. Er hat seine volle Zeit abgesessen. Da konnten wir nichts mehr tun.“

Wir. Gerald sagt „wir“ und meint damit den Justizapparat, die Strafvollzugsbehörde und die Polizei. So habe ich Gerald noch nicht reden hören. Gerald ist Pfarrer in der Justizvollzugsanstalt, in der ich Alphabetisierungskurse gebe. Gerald nimmt sonst die Perspektive der Gefangenen ein. Er bemüht sich, Kontakte nach „draußen“ zu organisieren; er veranstaltet Fußballturniere und Rockkonzerte; Gerald ist der typische „Gutmensch“, gegen dessen Verständnis für Straftäter die Rechte polemisiert. Aber Gerald sagt „wir“,: Wir müssen ihn scharf überwachen, wir müssen ihn in seiner Wohnung aufsuchen, unregelmäßig, damit er begreift, dass er beobachtet wird, wir müssen ihm klar machen, dass er sich an die Auflage halten muss: Kein Kontakt zu Kindern und Jugendlichen.

Er gibt Nachhilfe, denke ich. Bine hat mir erzählt, dass er Nachhilfe gibt. „Er braucht das so sehr“, hat sie gesagt, „auch wenn es kaum Geld bringt. Der Kontakt zu den jungen Menschen, eine Aufgabe, das Gefühl gemocht und anerkannt zu werden, du kannst dir nicht vorstellen, wie viel das in seiner Situation ausmacht.“ Das ist das Muster, denke ich. So hat er es immer gemacht. „Er gibt Nachhilfe“, sage ich zu Gerald. Gerald schaut mich an. „Bist du sicher?“ „Ja. Die Freundin, mit der er zusammen ist, hat es mir erzählt.“ „Ok.“, Gerald greift zum Hörer. „Das müssen wir melden.“ Mein Magen zieht sich zusammen. „Kann ich...?“ Ich schaue Gerald flehend an. „Was?“ Er hält einen Moment mit dem Tippen der Nummern inne. „...sie vorher anrufen?“ „Deine Freundin? Erst danach. Das ist unsere Chance, ihn zu kriegen. Wenn er sich über die Auflagen hinweg gesetzt hat, fährt er wieder ein. Und lange.“

Gerald nimmt mir die Entscheidung ab. Er tippt die Nummern und ich falle ihm nicht in den Arm. Der Apparat läuft an. Man wird observieren, Gespräche führen, verhören. Es wird rauskommen. Nicht alle werden für den lügen. Aus dem Auto, noch auf dem Parkplatz, rufe ich Bine an, um es ihr zu sagen. „Es war Liebe.“, schreit sie. „Verstehst du das nicht? Es war Liebe.“ Er wird für viele Jahre ins Gefängnis gehen. „Ich liebe ihn“, heult Bine. „Ich hasse dich.“





DER HEISSBLÜTIGE BARON IM STÜBCHEN (1979)

"Es hot werre unner de Deck gelese mit er Taschelamp.“, sagt die Großmutter, als meine Eltern mich abholen. Sie sagt es nicht einmal vorwurfsvoll, sondern resigniert. Sie hat sich Mühe gegeben, aber es hat nichts gefruchtet. Ich habe neben ihr in der Waschküche gestanden und die Gummiringe sortiert, die Einmachgläser mit dem heißen Wasserstrahl ausgespült, den Zucker abgewogen, die Zwetschgen entkernt, das Holz in den großen Ofen geschichtet und mit ihr zusammen den riesigen Kessel auf die Platte gewuchtet. Aber sie lässt sich nicht täuschen. Wir haben 30 Gläser befüllt, doch sie ist nicht zufrieden. Denn während sie mir erklärt hat, wie´s geht, („des Glos darf immer nur bis zur Hälft gefüllt werre“, „es muss noch worrm sei, wenn die Zwetschge nei kumme“, „die Gummis anfeuchte, damit se net austrockne und rissisch werre“) habe ich von dem heißblütigen Italiener im Stübchen geträumt. Das ist auch der Grund, warum sie das Thema nicht vertieft gegenüber meinen Eltern. Denn der heißblütige Italiener ist auch ihr Geheimnis.

Die Großmutter versteckt den heißblütigen Italiener, den Doktor Clarius und den Herrn von Schloss Choran unter der Spüle. Bei ihr wird nicht direkt am Wasserhahn unter dem Boiler gespült, sondern an der Spülkommode, die der Opa gebaut hat, als es noch kein fließend Warmundkaltwasser gab. Es ist eine Art Kommode, aus der man zwei Emailliebecken nach vorne herausdrehen kann. Die Becken, große Schüsseln, kann man herausnehmen. Das eine, das rechte, wird mit heißem Wasser gefüllt, das andere, das linke, mit kaltem. In dem warmem spült die Großmutter das Geschirr, dann taucht sie es in das kalte und danach bin ich dran mit meinem Geschirrtuch. Die Spüle ist aus Kirschbaumholz gearbeitet, obendrauf die Arbeitsplatte aus dunkelgrünem Stein. Der Opa ist jetzt schon seit drei Jahren tot. Ich weiß nicht, ob der Italiener, der Adlige und der Doktor auch zu seinen Lebzeiten ihren heimlichen Platz unter der Spüle hatten. Möglich wäre es, denn der Opa hat nie gespült und nicht einmal abgetrocknet. Nach dem Essen ist der Opa immer gleich rüber ins Wohnzimmer gegangen und hat sich eine Zigarre angezündet. Jedenfalls hat er das gemacht bis das mit dem Lungenkrebs rausgekommen ist. Danach ist es ganz schnell gegangen. Erst war er in der Klinik in Elkershausen und als er zurückkam, hat er nur noch die Hälfte gewogen wie vorher und im Bett gelegen, bis es vorbei war.

Die Ausgaben vom Kasseler Sonntagsblatt liegen oben auf dem Radiokasten. Aber die Hefte mit dem Italiener, dem Schlossherrn und dem selbstlosen Arzt versteckt die Großmutter unter der Spüle. Ich lese alles, sogar das Kasseler Sonntagsblatt. Ich nehme, was ich kriegen kann, wenn ich hier bin, denn Bücher hat die Großmutter gar keine, außer der Bibel, selbstverständlich. Die erbaulichen Geschichten im Kasseler Sonntagsblatt über den Segen des Glaubens, der noch ins letzte Bergtal vordringt, lese ich aber weniger gern als die Hefte, die Tante Anna aus Felbach mitbringt. Die Anna ist die Schwester von der Großmutter, aber sie sind sich nur ganz oberflächlich ähnlich. Beide tragen sie das weiß gewordene Haar zu einem Knoten aufgesteckt, beide haben eine dicke Hornbrille auf der Nase und fast immer einen geblümten Kittel an. Aber das Gesicht von der Anna ist rund und rosig, um die Augen hat sie viele Lachfältchen und sie lacht auch fast dauernd. Die Großmuter dagegen hat ein spitzes Kinn und kleine, eifrige Knopfaugen, die umherflitzen, weil sie alles im Blick haben muss. Die Anna sitzt am Tisch und lässt sich den Streuselkuchen schmecken, während die Großmutter rennt und werkelt. Die Anna bringt der Großmutter die Cora-Hefte und die versteckt sie unter der Spüle, damit es keiner sieht, dass sie die liest, denn die Großmutter hält das für „Schund und Dreck“, wie sie mit verkniffenem Mund sagt , wozu die Anna kichert und mir zu zwinkert.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich der Großmutter drauf gekommen bin, dass sie die Hefte hat. Die Anna hat es mir nicht verraten, aber seit sie gemerkt hat, dass ich von den Heften weiß, zwinkert sie mir immer zu, wenn sie sie aus der Tasche holt und der Großmutter unter die Spüle packt. „Des liest du awer net, gelle?“, sagt sie und lacht. Ich nicke. „Des is nix für klaane Mädche.“ Es geht nämlich um Zungenküsse und heiße Umarmungen und feuchte Träume in den Heften,  so was eben, was nie im Kasseler Sonntagsblatt stehen täte, denn wenn es da um Liebe geht, dann ist eine göttliche Bestimmung dabei und von Küssen und so ist nicht die Rede. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass die Großmutter die Hefte liest oder was sie sich dabei denkt, aber es muss so sein, denn jedes Mal, wenn ich bei der Großmutter übernachte, sind die alten Hefte gegen neue ausgetauscht. Die Anna liefert regelmäßig Nachschub.

Man weiß nicht, wie das kommt, dass zwei so unterschiedliche Schwestern aus einer Familie kommen können. Aber die Leute sagen, dass meine leibliche Großmutter, die richtige Mutter von meiner Mutter, die auch eine Schwester von der Anna und der Minna, wie die Großmutter heißt, gewesen ist, noch ganz anders war als die Anna und die Minna. Die Emma, sagen die Leute, war immer schick, trug einen Pelzkragen um den Hals und tanzte zum Grammophon. Das wiederum kann man sich weder von der Minna noch von der Anna in ihren geblümten Kitteln vorstellen. Außerdem hat die Anna sowieso Wasser in den Beinen. Mein Opa, sagen die Leute, war ganz verrückt nach der Emma und sie nach ihm, deswegen ist sie in die Kreisstadt gefahren, als er vermisst war, und verschüttet gegangen.

Nach der Großmutter ist der Großvater nicht verrückt gewesen, so weit ich das beurteilen kann. Ich habe kein einziges Mal gesehen, dass er nach ihr gelangt hat oder sie ihm über das Haar gestrichen. Erst als er auf dem Sterbebett lag, habe ich sie einmal schreien hören: „Das ist mein Mann.“ aus dem Schlafzimmer, während ich auf der Chaiselongue in der Küche gewartet habe, bis ich noch einmal hinein durfte zu ihm. Danach sind sie mit roten Nasen und verheulten Augen aus dem Schlafzimmer gekommen, meine Mutter, die Tante Margot und die Großmutter und haben den ganzen Tag kein Wort mehr miteinander gesprochen.

Die Großmutter weiß, dass ich die Hefte unter der Spüle stibitze und mit ins Stübchen nehme, bevor ich schlafen gehe. Aber sie sagt nix dazu. Denn wenn sie was sagen würde, müsste sie zugeben, dass es die Hefte gibt. Wenn sie gucken kommt, um mir Gute Nacht zu sagen, bleibt sie in der Schiebetür stehen: „Host werre die Taschelamp o?“ Ich luge über die schwere, frische Bettdecke hin zu ihr. Die Taschenlampe habe ich in der rechten Faust unter der Decke und mit der linken Hand stecke ich das Cora-Heft unter mein Bein. „Die kimmt aus. Is des klor?“ Ich nicke. „Gude Nacht.“ „Gut Nacht, Großmutter.“ Natürlich mache ich die Lampe nicht aus. Das weiß sie auch. Sie schiebt die Tür zu.

Das Stübchen, in dem ich immer schlafe, wenn ich bei der Großmutter übernachte, ist so klein und voll, dass der Opa eine Schiebetür einbauen musste, weil eine andere Tür nicht aufgegangen wäre. Es steht ein riesiger schwarzer Schrank darin, in dem die Oma weiße Bettlaken, Bettwäsche und schwere weiße Nachthemden stapelt, mit gebügeltem Seidenpapier dazwischen. Das ist ihre Aussteuer gewesen und sie wird nie benutzt. Zwischen den Laken liegen kleine Säckchen mit Lavendel drin und wenn man die Tür von dem großen Schrank aufklappt, duftet es blumig im Stübchen. Hinter dem Schrank ist ein Regal mit einer Schiebetür in die Ecke geklemmt, da sind die Einmach-, Marmeladen- und Wurstgläser drin. Wenn man die Schiebetür aufzieht, riecht es nach Zimt und Kräutern, süß und würzig.  An der Seite neben der Schiebetür steht die alte Nähmaschine von der Emma. Die Großmutter benutzt die Nähmaschine nicht, aber ölt sie regelmäßig und lässt kein Staubkörnchen auf ihr liegen. Mitten im Zimmer steht das riesige Bett. Es ist ein Einzelbett und nicht breit, dann würde es auch nicht ins Stübchen passen.  Aber es ist hoch. Obwohl ich jetzt schon groß bin, muss ich immer noch hineinklettern am Abend, auf die dicke Matratze und auf den Kissenturm. Blütenweiß und frühlingsfrisch ist die Wäsche von der Großmutter

So throne ich in meinem Stübchen-Bett mit der Taschenlampe unter der Decke und dem heißblütigen italienischen Baron, der mich rücksichtslos gegen die Wand seines Gewölbekellers presst, mit der Hand unter mein Kinn greift und flüstert: „Wagen Sie es?“ Ich wage. Alles wage ich, denn ich bin eine verarmte Waise und sehne mich nach Liebe und Geborgenheit, nach einem Heim, Tanzschuhen, einem Ballkleid und der starken Hand des Barons an meiner Hüfte, aber das würde ich niemals zugeben, denn ich habe meinen Stolz und deshalb stoße ich den Baron zur Seite und sage mit bebender Stimme: „Sie vergessen sich!“ Da lässt er mich los und schaut mich mit düsterem Blick an, der mich schaudern macht, wendet sich ab und schreitet davon. Von der Terrasse aus kann ich sehen, wie der Baron auf dem schwarzen Rappen gegen den mit dunkelgrauen Wolkenvorhängen zugezogenen Himmel reitet. Als er am Horizont verschwindet, zuckt ein Blitz über den Kronen des dräuenden Waldes.

Es wird so kommen, dass der Baron in dieser Nacht einen Reitunfall erleidet, für den ich mir die Schuld gebe. Er wird, sobald er das Bewusstsein wiedererlangt und der grässlichen Veränderung seiner Lage gewahr wird, veranlassen, dass ich das Schloss verlasse, ohne ihn wiederzusehen. Ich werde mir einbilden, er hasse mich und wolle mich nie mehr wiedersehen, doch in Wirklichkeit will der großherzige und raue Mann eine junge Frau wie mich nicht an den Invaliden, zu dem er geworden ist, binden. Durch Zufall sehen wir uns  bei einem Gartenfest wieder, nachdem ich mich schon mit einem blonden und harmlosem Sparkassenangestellten verlobt habe, obwohl ich Tag und Nacht voller Sehnsucht an den Baron denke. Da geht die Taschenlampe aus; die Batterie ist leer. Ich weiß aber schon, dass alles gut wird, weil der Baron seine Gefühle nicht länger wird verbergen können schließlich werden wir uns im Garten unter den Platanen finden. Da werde ich mich zu ihm hinunterbeugen und sein Gesicht zwischen die Hände nehmen und ihn küssen voller Leidenschaft und er wird seine Arme um mich schlingen und wie durch ein Wunder wird er aufstehen von seinem Rollstuhl und mit mir in den Weg hinunter gehen auf die verglühende Abendsonne zu. Selbstverständlich trage ich hohe Absätze und einen weit schwingenden Rock. Es macht nix, falls die Taschenlampe ihren Geist aufgibt, denn wenn der Baron mit seinem schwarzen, vollen Haar, seinen dichten Augenbrauen und seinem düsteren Blick erst einmal vor meinen Augen erschienen ist, kann ich mir die ganze Geschichte auch allein im Dunkeln bis ans Ende erzählen. Ich umschlinge den weichen Kissenberg und drücke meine Lippen ins duftende Weiß. Auf meiner Wange fühle ich wohlig das Kratzen von den Stoppeln des Barons, denn seit dem Unfall vernachlässigt er seine Erscheinung und rasiert sich nicht mehr jeden Tag gründlich.

Ich schlafe immer gut im Stübchen bei der Großmutter, wo es so schön riecht. Ich erwache immer früh genug, um das Cora-Heft zurück unter die Spüle zu stecken, bevor Großmutter mich wecken kommt. Das Stübchen mit den schweren Möbeln, das Wohnzimmer mit der Vitrine, die Küche mit der Chaiselongue und der Spüle, alle Zimmer hier im Haus sind gerade so geblieben, wie sie waren, als der Opa noch gelebt hat. Nur aus dem Schlafzimmer hat die Großmutter gleich nach seinem Tod das schwere Ehebett rausgeschmissen und sich eine moderne Schlafzimmergarnitur mit einem Einzelbett gekauft.




Vermisst. Großvaters blaue Kladde (2002)


„Nimm die Kinder, bitte! Geht weiter.“, sage ich. Mir rinnen  Tränen die Wangen herab und hin
hinterlassen hässliche braune Wimperntuschespuren unter meinen Augen. Dicht bin ich an die Vitrine herangetreten, damit es niemand sieht. Wenn aber einer seitlich hinter mich tritt, spiegelt sich für ihn mein aufgelöstes Gesicht im Glas vor den Kriegsgefangenenausweisen. Meine Mundwinkel zucken beim vergeblichen Versuch kein Geräusch zu machen. Das Schluchzen ist leise, aber B. hat es dennoch gehört. Er stellt sich hinter mich und sieht, was er nicht sehen soll. Ich will jetzt keine Frage danach, was los ist. Ich will, dass er weiter geht, dass er die Kinder nimmt, bevor auch sie etwas bemerken. B. weiß nicht, was er tun soll. Der aggressive Ton verunsichert ihn,  er legt mir die Hand auf den Arm. Doch ich schüttele ihn ab: „Geh.“ Er ruft die Kinder; sie gehen hinüber in den nächsten Raum und ich bin allein vor dieser Vitrine im Haus der Geschichte in Bonn, in der ein grüner US-amerikanischer Kriegsgefangenenausweis ausgestellt ist: Prisoner of War, Camp Ashby, CA.  Auf Großvaters grünen Ausweis, erinnere ich, war quer das Wort „Carpenter“ gestempelt. Sie konnten ihn brauchen und hielten ihn fest in den Baracken mit Meerblick.
Neben dem Ausweis liegt in der Vitrine eine dieser roten Postkarten, genau wie die, die  ich in den Händen gehalten habe: Die vorgedruckte Meldung an die Verwandten, dass einer in Kriegsgefangenschaft geraten ist und in ein Lager verbracht worden über den Ozean und einen fremden Kontinent  nach Kalifornien. Ich habe Großvater niemals über die Jahre am pazifischen Ozean sprechen hören. In seiner unsicheren Schrift hatte er auf die Rückseite der roten Karte über das Vorgedruckte geschrieben: Dein Albert  Euer Vater. Das hatten sie ihm offenbar durchgehen lassen. Auf dem Ausstellungsexemplar  in der Vitrine sind nur die vorgesehenen Felder ausgefüllt. Ich versuche, die Linsen wieder scharf zu stellen: Ein Hermann, geboren 1907, hat diese hier gen Osten und über den Atlantik geschickt.  Albert, mein Großvater, wurde 1909 geboren, als jüngster Sohn seines Vaters.  Wie ihre beiden Vorgängerinnen starb meine Urgroßmutter im Kindbett. An Mutters Stelle trat für ihn seine älteste Schwester Grete. Neunzehn Jahre alt war sie bei seiner Geburt. Im Kindesalter hatte er eine schwere Hirnhautentzündung und konnte fast ein Jahr lang die Schule nicht besuchen. Die Grete hat sich um ihn immer noch ein bisschen mehr gesorgt als um ihre anderen Geschwister und sogar mehr als um ihre eigenen Kinder,  um ihren Sohn, den sie Albert nannte und der nicht zurückkam von der Ostfront und um Maria, die nur sechs Jahre jünger war als mein Großvater und die später meiner Mutter zur Ziehmutter wurde . Albert, mein Großvater,  war in der Schule nach der langen Auszeit durch die Krankheit hinter seinen Kameraden zurück geblieben. Mit 14 Jahren ging er bei einem Großonkel in die Schreinerlehre. Meine Knie zittern. Ich suche nach einer Sitzgelegenheit, finde keine. Aber der Weg zur Toilette ist ausgeschildert. Dort kann ich mich einschließen und ausheulen.
Es hat mir nie jemand erzählt, wie Großvater Emma kennenlernte. Vielleicht hat es auch keiner gewusst von denen, die überlebt haben. Aber alle, die sie noch zusammen gesehen hatten, sagten, es sei eine große Liebe gewesen.  Emma war anders als die anderen Frauen in der Familie. Sie kaufte sich Zeitschriften und schneiderte sich die neueste Mode nach. Um den langgestreckten Hals legte sie  sich einen Fuchspelz. Ihre schmalen, eleganten Kostüme bedeckten gerade die Knie. Ich kenne kein Foto von ihr aus jenen Jahren, als sie noch ledig und kinderlos war. Sie war vier Jahre älter als Albert. Mit der geraden, langen Nase, der hohen Stirn und dem länglichen Gesicht entsprach sie einem Schönheitsideal, wie Henny Porten es geprägt hatte. Nur lacht sie nie auf den späteren Fotos als Mutter und Ehefrau, sondern schaut ernst in die Kamera. Bei den Kundinnen waren ihre Kreationen beliebt; sie selbst , hat man mir erzählt, eher nicht. Die Leute fanden sie hochnäsig mit ihrem Pelz und in den figurbetonten Kostümen. Auch als sie schon zwei kleine Mädchen hatte, arbeitete sie von zu Hause aus als Schneiderin weiter. Das war nötig, denn Großvater hatte für sie ein Haus gebaut, das abbezahlt werden musste und die Erlöse aus seiner Schreinerwerkstatt langten dafür nicht. Ihr scheint das nichts ausgemacht zu haben. Auf den Fotos berühren sich die beiden nicht, aber sie stehen ganz eng bei einander und ihr Stolz reicht hin, um seine Scheu, sein sanftes Lächeln um  ihre Strenge auszugleichen. Auf dem letzten Foto, das die vier zusammen zeigt, steht meine Mutter, damals  fünf Jahre alt, neben ihrer Schwester, beide tragen sie weiße, spitzenverzierte Kleidchen, die Emma genäht hat. Albert trägt die Wehrmachtsuniform. Die beiden Erwachsenen sehen bedrückt aus, während die Mädchen in die Kamera lachen. Sie werden nie mehr zu viert vor einer Kamera stehen. Aber es wird nicht er sein, der fehlen wird.
Es ist nicht Trauer, begreife ich,  als ich auf dem Klo sitze und die Tür von innen verriegele, die meine Tränen ausgelöst hat. Ich kralle die Hände um den Rand des Deckels, auf den ich mich gesetzt habe. Ich möchte zuschlagen, irgendetwas entzwei hauen. Es ist Wut, pure Wut. Ich habe Emma nicht gekannt. 1944 ist sie bei einem Bombenangriff der US-Armee auf die Kreisstadt verschüttet worden. Ich weine nicht um sie. Ich weine wegen ihrer Schwester Minna, die die blaue Kladde verschwinden ließ, den grünen Ausweis, die rote Postkarte und die Briefe von Margret und Röschen an ihren Vater. Nur die zwei oder drei  Fotos von Emma und Albert, Margret und Röschen gibt es noch. Sie kleben im Fotoalbum meiner Mutter. Aber alles, was Großvater drei Jahrzehnte lang in der blauen Kladde versteckt hatte, ist weg. Die blaue Kladde war in Großvaters Sekretär in der Werkstadt eingeschlossen, wo die Leitz-Ordner mit den Rechnungen an seine Kunden und alle anderen wichtigen Dokumente, sein Pass, seine Gewerbebescheinigung, seine Handwerkerrolle lagen.  Ganz unten fand ich die Kladde, ein mit blauem Stoff eingeschlagenes Buch, dessen linierte Seiten zur Hälfte in seiner schwer leserlichen, spinnenhaft dünnen Handschrift beschrieben waren. Manchmal, selten, stand der Rollsekretär offen. Ich habe nie gesehen, dass  Großvater die Kladde herausnahm, wenn ich bei ihm in der Werkstatt war.  Ich fand sie, nachdem er gestorben war. Ich durfte mir immer den Schlüssel vom Bord in der Küche nehmen und niemand hat mich gefragt, wozu ich in die Werkstatt gehe, weil alle verstanden haben, dass ich mich an Großvater erinnern will, der für mich eine kleine Hobelbank gebaut hatte, an der Wand neben seiner großen und ein Bord geschnitzt, an dem meine kleinen Werkzeuge hingen und der die Minna überredet hatte, mir eine blaue Schürze zu nähen, gerade wie seine große Schreinerschürze, die er nur zum Essen am Mittag und spät am Abend auszog.
„Sie sin an Kopp en an Arsch.“, haben sie über uns gesagt. Aber er hat mir nie von Emma erzählt. Kein Wort. Meine Mutter hat immer behauptet, dass sie sich nicht an viel erinnern kann aus der Zeit, bevor  Emma weg war. So spricht sie darüber. Sie sagt nicht: „Als meine Mutter gestorben ist...“ oder „Nach dem Bombenangriff...“ Sie sagt: „Meine Mutter war weg...“ oder „Ich hatte ja keine Mutter mehr...“ Mein Großvater, erzählen die Leute, ist ein gebrochener Mann gewesen, als er aus Amerika zurückkam. Sie haben die Emma nicht gemocht,  aber keiner hat je einen Zweifel daran gelassen, wie sehr Albert sie geliebt hat und sie ihn auch.. Wäre es anders gewesen, wäre sie ja auch nicht gestorben. Jeder hat es ihr gesagt, lassen sich die Leute aus  und schütteln noch dreißig Jahre später den Kopf, dass die Kreisstadt bombardiert wird und eine Mutter mit zwei kleinen Kindern nicht dahin fahren darf. Deshalb hat sie es heimlich getan, denn sie hat es nicht mehr ausgehalten. Albert war als vermisst gemeldet worden im Sommer 1944 und sie musste nach Monaten ohne ein Wort wissen, ob es etwas Neues  über ihn gab. Die Mädchen hat sie mit zum Bahnhof genommen und ihnen eingeschärft, dass sie im Häuschen am Gleis warten sollten bis sie zurück käme mit dem Abendzug. „Lasst euch nicht vor den Leuten blicken“, habe sie gesagt, erzählt die Margret. Emma ist niemals  mehr zurückgekommen. Margret und Röschen haben gewartet. Auf den Abendzug. Die ganze Nacht. Am Morgen hat sie ein Großonkel gefunden und nach Hause gebracht. Der hat auch die Emma an ihrem Ehering identifiziert in der Kreisstadt, wo die Leichen oder das, was von ihnen übrig war in der Turnhalle aufgebahrt wurden. Meine Mutter hat nie über diese Nacht gesprochen. Sie sagt, sie hat alles vergessen. Sie war fünf Jahre alt. Die Margret war zehn.
Albert begann im November 1944 in die Kladde zu schreiben. Da war Emma schon zwei Monate tot. Das wusste er nicht. Er schreibt: „Geliebte Emma, wie es wohl den Kindern und dir gehen mag. Ich denke jeden Tag an euch. Wenn ich in unserem Lager vor die Türe trete, sehe ich das Meer. Das ist der pazifische Ozean. Es ist unendlich weit. Kannst du dir das vorstellen? Ich bin am Atlantik gewesen und nun am Pazifik. Du glaubst nicht, wie schön das Meer ist. Es reißt einem das Herz auf, wie weit der Blick drüber hingeht. Als ich  es in der Bretagne zum ersten Mal gesehen habe, dieses unendliche Blau mit den weißen Kronen drauf, da dachte ich an dich. Wie anders es gewesen wäre, mit dir dort zu stehen. Du hättest das auch gefühlt, denn du willst auch immer mehr als das, was da ist. Aber ich habe den Hass in den Augen der Franzosen gesehen, an denen wir vorüber gefahren sind. Ich hatte nur eine Chance, das Meer zu sehen, nämlich als Söldner eines Verbrechers andere Länder zu überfallen.  Für Leute wie dich und mich ist es nicht bestimmt, ans Meer zu fahren, obwohl es doch Gott geschaffen hat für alle Menschen. Das hat mich bitter gemacht und mein Herz verschlossen, das grade doch so weit geworden war: der Gedanke, dass du niemals das Meer sehen wirst, liebe Emma. Ich sehne mich so sehr nach dir. Ich wünschte, du könntest herkommen mit Margret und Röschen.“
Jeden Tag hat er Eintragungen in diese Kladde gemacht. Vokabellisten deutsch – englisch: the door – die Tür, the cabinet – der Schrank, Kirschholz – cherry wood, Kiefer – pine. An anderen Tagen füllt er die Seiten mit seinen Gewissensbissen: „Du sollst nicht schwören, sagt der Herr. So hat uns der Pfarrer gesagt. Ich habe mitgebaut an dem Podest für den Parteitag in der Kreisstadt. Als ich gefragt wurde, haben alle gesagt, das kannst du nicht ablehnen. Du hast meinen Kopf in die Hände genommen und mich beschworen: Wir brauchen das Geld. Wenn ich es nicht gemacht hätte, hätte es ein anderer gemacht. Das ist wahr, aber es ist auch wahr, dass der Richard sich lieber ein Beil in den Fuß gehauen hat, als für das Pack zu marschieren. Du hast zwei kleine Kinder, Albert, hast du gesagt. Aber wir beide, Emma, haben gewusst, dass es nicht recht ist und deswegen haben wir wach nebeneinander gelegen und geschwiegen. Am Ende habe ich den Schwur auf den Führer geleistet , als sie mich zum Soldat gemacht haben. Du sollst nicht schwören, sagt der Herr, und dafür werde ich bezahlen müssen. Denn ich habe geschworen und den Schwur gebrochen. Bei der ersten Gelegenheit bin ich getürmt und zu den Amerikanern übergelaufen. So ist das nämlich, Emma. Ich habe nicht kämpfen wollen für diese Verbrecher und meinen Schwur gebrochen. Was ist schlimmer, einen falschen Schwur leisten oder ihn brechen? Die Amerikaner sind gut zu mir gewesen. Sie lassen mich arbeiten und es ist warm und schön hier. Außer das ich nicht raus kann und dir nicht schreiben darf, Emma. Wie sehr ich euch vermisse! Geliebte, dein Haar, wenn du es löst in der Nacht.“
Manche Seiten sind halb leer. Da hat er versucht zu dichten, der Mann, der mein Großvater wurde und den ich nie ein Buch lesen sah, außer der Bibel und auch aus der nur die Psalmen, die er gern hörte, wenn ich sie ihm vorlas. Schlicht und zuweilen ungelenk sind seine Reime.
„Ich seh dich über die Felder laufen
Den Kirchberg herab in meine Arme
Die Welt möchte ich für dich kaufen
Ach, dass sich Gott meiner erbarme,
Dass ich dich bald wieder an mich drücke
Und sich füllt in meinem Herzen die Lücke.“
Ich habe geweint, jedes Mal, wenn ich in der Kladde gelesen habe. Diesen Mann habe ich gekannt, der das geschrieben hat. Das ist der Mann gewesen, mit dem ich in der Werkstatt gewesen bin, der Mann, der mit mir im Wald auf die Rehe gelauscht hat und mir vom Duft der Maiglöckchen vorgeschwärmt hat. Das war der Mann, auf dessen Schoß ich gesessen bin und der mir Märchen erzählt hat. Wenn dieser Mann die blaue Schürze abgebunden und an den Nagel gehängt hat und hinüber gegangen ist von der Werkstatt über den Hof ins Haus, dann ist er zu einem anderen Mann geworden, einem dicken, verschlossenen Mann, dem kaum mehr zu entlocken war als „Ja.Ja. Nein.Nein.“ Das ist der Mann gewesen, den die Minna gehabt hat. Der Albert, mit dem die Minna verheiratet war, war ein Mann, der das Fett vom Braten gesäbelt hat, um sich eine Wampe wie einen Panzer anzufressen.
Meine Mutter erzählt oft, wie schlimm es für sie gewesen sei, nach der Rückkehr ihres Vaters plötzlich Mutter zu der Frau sagen zu müssen, die immer die „Gote“, die Tante gewesen war. „Die ganze Trepp´ bin ich e nunner gerannt, damit ich se net rufe muss.“ Es muss grimmig gewesen sein in der ersten Zeit in dieser neuen Hausgemeinschaft aus einem Mann, dessen Herz gebrochen war und einer Frau, die sich von ihm nicht gewollt fühlte, und zwei kleinen Mädchen, denen die Tante jetzt Mutter sein sollte.  Albert kam erst 1949 zurück aus Kalifornien. Für meine Mutter brach die Welt noch einmal zusammen, erzählt sie, als der so lang herbei geträumte Vater endlich im Hof stand, ein hagerer Glatzkopf in Lumpen. Sie erkannte in ihm nicht den Vater, den sie ersehnt hatte. Auch der Schwester war sie entfremdet, denn die war während dieser Jahre in Felbach beim Emmas Familie aufgewachsen. Der Albert bestand drauf, dass die Mädchen bei ihm aufwachsen sollten. Die beiden Familien setzten sich zusammen und fanden eine vernünftige Losung. Die unverheiratete Schwester der Emma sollte ins Haus ziehen, um die Mädchen zu versorgen. Und damit alles „seine Ordnung“ hatte heiratete der Witwer sie.
Von dem Mann, den ich gekannt habe und der Emma so sehr geliebt und vermisst hat, gibt es keine Spuren mehr, außer jenen zwei oder drei Fotos im Fotoalbum meiner Mutter, die gestellt sind und auf denen sie einander nicht berühren. Deshalb sind mir die Tränen gekommen. Ich vermisse den Mann, der nie das Haus betrat, in das Emma 1944 nicht zurückgekehrt war. In der Werkstatt habe ich ihn kennengelernt und in seinem Sekretär hatte er mir etwas hinterlassen. Das bilde ich mir ein. Ich muss mir alles einbilden. Denn die Kladde, die abbricht an jenem Tag, an dem Albert die Todesanzeige von Emma erhält mitsamt den Briefen, die die Mädchen endlich an ihn schicken dürfen im Herbst 1945, ist verschwunden. Eines Tages, als ich sie wieder aus dem Rollsekretär nehmen wollte, war sie weg. Die Kladde und all die Briefe und der Kriegsgefangenenausweis und die Postkarte aus dem Lager. Jedes Wort, das ich hier geschrieben habe, ist erfunden. Der Albert, den ich gekannt habe, den hat es nie gegeben. Als ich die Minna nach der Kladde gefragt habe, hat sie behauptet, sie habe nie eine gesehen. Meiner Mutter habe ich versucht zu erzählen, was Albert geschrieben hatte. „Das glaube ich nicht.“, hat sie gesagt.“ Das bildest du dir ein. Mein Vater hat nie mehr als ein paar Sätze geschrieben und auch die nur geschäftlich.“ Alle haben immer so getan, als hätte ich mir das Buch in der Werkstatt nur ausgedacht, um mich interessant zu machen oder weil ich den Großvater so sehr vermisse.
Ich war zehn Jahre alt, als Albert gestorben ist. Ich war elf, als die Kladde verschwand. In all den Jahren habe ich selbst manchmal gedacht, dass ich mir nur eingebildet habe, in Großvaters Sekretär habe ganz unten dieses blaue Buch gesteckt. Und dann lag er vor mir in der Vitrine in Bonn, der Ausweis, den ich wiedererkannte: Prisoner of War, Camp Ashby, CA. Großvater war in Kalifornien, von wo er eine vorgedruckte rote Karte nach Hause schickte an Emma, Margret und Röschen. So war es doch. Ich sehe die Minna in ihrem geblümten Kittel in der Tür zur Werkstatt stehen und mich zum Essen rufen. Schnell stecke ich die Kladde ins unterste Fach des Sekretärs zurück. Die Minna zieht die Schultern immer zusammen; sie muss sich anscheinend dauernd zusammenreißen. Nur einmal habe ich erlebt, dass sie sich gehen lässt. „Das ist mein Mann“, hat sie geschrieen, ganz zum Schluss, als der Albert gestorben ist. Aber er hat nicht mehr nach ihr gefragt. Von jedem Enkelkind hat er einzeln Abschied genommen, von seinen Töchtern auch. Nur nach ihr hat er nicht verlangt.
Ich pudere mir das Gesicht vor dem Spiegel in der Museumstoilette und ziehe den Lidstrich sorgfältig nach. Minna ist jetzt seit zwei Jahren im Altersheim und seit einem Jahr nicht mehr ansprechbar. Ihre Wohnung habe ich zusammen mit meiner Mutter ausgeräumt, Ich habe alle ihre Schränke durchsucht. Da war keine Kladde. Vor der Tür der Toilette wartet B. mit den Kindern. Sein Blick sucht den meinen. Ich nicke ihm zu. Am Abend nach der Rückkehr aus Bonn rufe ich meine Mutter an und lenke das Gespräch auf Großvaters Bruder Richard. Sein linker Fuß ist verkrüppelt, solange ich ihn kenne. Ich frage meine Mutter, wie das passiert sei. „Ein Unfall“, sagt sie, „das weißt du doch, beim Holzhacken.“ Das haben alle immer gesagt. „Wann war das?“ „Weiß ich nicht mehr genau. Da war ich selbst doch noch ein Kind. Das muss gewesen sein, bevor meine Mutter weg war.“ Monate später bei einer Geburtstagsfeier setze ich mich neben Richard. „Hast du Schmerzen in dem Fuß?“, frage ich. „Immer noch. Immer wieder.“ „Das war unglaublich mutig von dir.“ Er schaut mich überrascht an. „Was?“ „Dir in den Fuß zu hacken, damit du nicht für die Nazis kämpfen musst.“ Richard packt mich am Arm. „Das hat nur der Albert gewusst, wie es wirklich war. Hat er dir das erzählt?“ Da kommen mir noch mal die Tränen und ich muss wieder aufs Klo flüchten, bevor jemand was merkt.





DER TOD DER MÄRCHENPRINZESSIN (1984)

Hinterher machte ich mir natürlich Gedanken, ob alles meine Schuld gewesen sei. Denn ich bin eine Frau, da ist das ganz natürlich. Meine Freundinnen versuchten unisono mir das auszureden: „Der will dich fertig machen und du fühlst dich verantwortlich? Spinnste?“ „Wie irre ist das denn? Der terrorisiert dich – und du suchst die Gründe bei dir? Statt den Psychopathen anzuzeigen?“ Sie hatten selbstverständlich Recht. Und eben so selbstverständlich wussten wir alle, dass jede von ihnen sich genauso gefühlt hätte, wenn ihr das passiert wäre.

Sicher hätte es andere Möglichkeiten gegeben. Ich hätte nicht sagen müssen, dass es nicht an ihm lag. Weil ich gerade nicht klar käme mit so einer Beziehung und sowieso...Das hätte ich nicht sagen müssen. Es war ja auch gelogen. Denn es lag an ihm, an diesem leidenden Tonfall, wenn ich die Dinge nicht so sah wie er, die Leute, die er toll fand, mich ödeten oder die Thesen, die er mir referierte, mich nicht interessierten. Am Anfang hatte das keine Rolle gespielt. Da waren wir übereinander her gefallen. Damals in der Fußgängerzone in Göttingen, als die Sonne mich so blendete, dass ich ihn gar nicht mehr richtig sehen konnte, wie er da plötzlich so nah dran an mir gewesen war, mit seiner Nase an meiner und seinen Lippen auf meinen, da hatte das erstmal keine Rolle gespielt, denn das er hatte ganz gut gekonnt. Da waren wir gerade noch so halbwegs angezogen in seine Wohnung gekommen.

Aber danach fing das schon an. Wie geleckt das alles bei dem war. Die Ordnung im Regal, nach Alphabet und lauter Gesamtwerke. Klassiker der Philosophie und Ökonomie. Kaum Taschenbücher. Fast keine Romane. Nichts dazwischen gestopft. Keine Eselsohren. Keine losen Zettel. Nirgendwo lag was rum. Aus der Flasche trinken ging gar nicht bei dem. Zum Beispiel. Aber auch die Serviettenringe! Wer hat denn so was? Alles war verkrampft. Comics auf dem Klo lesen? Fand er eklig. Kein Fernseher. "Da verblödest du." Er las am Schreibtisch. Auf dem Bett wollte er nur das Eine. Aber das nur auf dem Bett. Ich konnte nie entspannen bei dem. Ich hätte schon damals, beim ersten Mal, einfach gehen sollen hinterher. Ich hatte das auch vorgehabt. Aber der nahm an und setzte voraus, dass das jetzt ein Anfang gewesen war von was „Festem“. Der stellte sich vor, dass ich jetzt „zu ihm gehöre“ und sprach das aus, als verleihe er mir einen Orden. Da hätte ich zucken müssen, die Tür erreichen, raus und hinter mir zuknallen. Aber ich war träge. Ein bisschen verliebt auch, gebe ich ja zu. Das kam noch dazu. Und es gab kein Argument dagegen. Keinen anderen. Oder eine andere (Daran hatte er überhaupt nicht gedacht.) Keine Umzugspläne. Mir fiel jedenfalls kein Argument ein. Und der ließ nur Argumente gelten. Wenn ich gesagt hätte, irgendwie halt, so als Bauchgefühl, dass das nicht passt mit uns, dann, so glaube ich, hätte er die ganze Nacht mit mir diskutiert und bestimmt das letzte Wort behalten. Da hätte ich auch fest gesessen.

Trotzdem hätte ich ehrlich sein müssen, als ich mir schließlich doch einen Ruck gegeben hatte nach zwei Monaten, in denen ich wenig zu lachen hatte. Meine laute Lachen wirkte in seiner Gegenwart auf mich selbst vulgär. Worüber ich mich mit meinen Freundinnen amüsierte, zeigte ihm nur, wie dumm die waren. "Aber jetzt hast du ja mich.", sagte er wohlwollend wie ein geiler Onkel und strich mir vorn über den Pullover. Entweder hielt der mich in seiner Wohnung fest oder er stand bei mir auf der Matte. Ich kam gerade mal in mein Institut rein und raus ohne den, weil er ja zum Glück Philosophie studierte und ich nicht, aber er beeilte sich immer sehr, damit er mich rechtzeitig abholen konnte in meinem Institut. So groß war, sagte der, seine „Sehnsucht“ und je süchtiger er wurde, desto mehr begann ich ihn zu hassen.

Das ist nicht übertrieben. Ich saß auf dem Klo (einen anderen Rückzugsort gab es kaum mehr) und schmiedete Pläne, Fluchtpläne und Mordpläne. Meine Freundinnen versuchten mich zu erreichen, aber meistens war er schneller am Telefon (Mobiles gab es damals noch nicht, wie du dich vielleicht erinnerst).  Dann würgte er die ab. Wenn sie mich mal zufällig ohne den trafen, fragten sie besorgt, ob ich krank sei, denn so sah ich aus: Blass, übernächtigt, mit hängenden Mundwinkeln. Ich glich mich an, wie der Hund seinem Besitzer.

Manche, habe ich gelesen, bleiben Jahre lang bei so einem, an den sie irgendwie geraten sind, weil sie die Kraft nicht aufbringen, sich dessen Zugriff zu entziehen. Vielleicht wenn eine drauf konditioniert ist, Übergriffigkeit für Aufmerksamkeit zu halten und Besitzansprüche für Liebe, vielleicht kann sie sich dann damit arrangieren. Oder muss es. Ich konnte es nicht. Aber ich hätte ehrlich sein können. Ich hätte ihm sagen können, wie sehr er mich anwidert. Vielleicht wäre das so schneller rumgegangen und er hätte sich eher lösen können. Stattdessen suchte ich Ausflüchte und nahm alles auf mich, weil ich halt so unentschlossen und jung und so weiter sei, dass... Das gab ihm aber nur Anhaltspunkte, seine Argumentationsketten zu bilden. Alles ganz logisch. Warum wieso weshalb. Es doch ginge. Und sogar müsse. Weil. Er habe auch schon eine Reise für uns gebucht.

Das wurde dann später zu einem der Hauptvorwurfspunkte: Dass ich ihn hätte die Reise buchen lasen, investieren in sein Unglück und wie das für ihn gewesen sei, als er die habe stornieren müssen, all die Hoffnungen auf einen Neuanfang aufgeben, die er damit verbunden habe und wie die Frau im Reisebüro ihn angeschaut habe, das hätte ich mal sehen sollen, aber ich hätte mich ja gedrückt und geweigert dahin mitzukommen, wie ich überhaupt nach dem dritten Treffen in einer Kneipe mich geweigert hätte, mich noch einmal mit ihm zu verabreden, weshalb er also gezwungen gewesen sei, mir aufzulauern vor der Tür und meine Freundinnen aufzusuchen, eine nach der anderen, um „diese Sache“ zu klären, denn das sei ich ihm jedenfalls schuldig, eine Erklärung könne er verlangen und eine, die er verstehe, eine, die hieb- und stichfest sei, eben. So fing das an.

Das ging so jeden Tag, auf dem Weg zum Bäcker, in die Mensa, beim Metzger, im Karstadt, bei meiner Freundin Anne und bei Sabine und Kristine. Überall war er. Anfangs weinerlich, mit zuckenden Mundwinkeln. Irgendwann schlug ihm die erste die Tür vor der Nase zu. Irgendwann schrie ich ihn an. Dann kamen die Drohanrufe. Die Schmierereien an meiner Tür. Die Kondome auf meinem Wäschetrockner auf dem Balkon. Das Blenden mit den Fernlichtern seines Autos. Die politische Differenz: Fascho-Hure auf meine Tür gesprayt. Das kam dann. Es gab  keinen anderen. Das war wahr. Aber das konnte er auf keinen Fall akzeptieren. Ich musste mich einem faschistischen Drecksack hingegeben haben, ganz klar. Warum sonst hätte ich ihn verlassen sollen?

Ich hätte es ihm gleich sagen müssen. Wie widerlich er mir war. Und der säuerliche Geruch aus übelwollender Anstrengung, der ihn umgab. Die Art, wie er am Bier nippte, statt zu trinken.  Das hätte ihn verletzt, stimmt, aber ihm geholfen, Abstand zu nehmen.  „Und dann? Dann hätte er gleich zugeschlagen.“, sagte Bine. Irgendwie tut er mir auch leid. Er kann ja nix dafür. Seine Gefühle gehen halt mit ihm durch. „Du musst ihn anzeigen.“, sagte Anne. „Glaubste das wirkt noch bei dem? Der ist doch total gaga.“, war meine Meinung. „Nee, so irre ist der nicht. Der ist sich selbst ganz schön wichtig. Wenn er Angst um sich haben muss, dann zieht er den Schwanz ein.“, versicherte mir Anne. Die studierte Psychologie und musste es ja wissen. Sie kannte auch den Bruder einer Kommilitonin, der bei der Polizei war. Der stattet dem dann einen wohlmeinenden Besuch ab. „Von Mann zu Mann so, oder was?“, fragte ich skeptisch. „Nein.“, lachte der: „Von Bulle zu Männchen!“ Ich zog die Augenbrauen hoch. „Das ist ein ganz armes Schwein. Der hat Schiss, wenn ich nur die Schulterblätter auseinander ziehe.“ „Macho.“, murmelte ich. Er lachte wieder. „Nur wenn´s sein muss. Und nur unter Männern.“ Die Lösung gefiel mir nicht. Aber sie funktionierte.

Der „Bulle“ war nett und ich lud ihn aus Dankbarkeit zum Abendessen ein. Da passierte noch nix. Aber es funkte ein bisschen. Dachte ich, hoffte ich. Wir sahen uns wieder. Halb zufällig. Dann verabredet. Im Kino (Trinken aus der Flasche!). Später ein Kuss im Hausflur. Und noch später zog er bei mir ein. Und blieb. Ziemlich lange. (Aber das ist eine andere Geschichte.) Einmal kam noch ein „anonymer Anruf“, am Nachmittag als K. Dienst hatte. „Bullen-Schlampe. Habe ich doch Recht gehabt.“  Das war wichtig für den, offensichtlich: Recht haben. Ich legte auf. „So im Rückblick“, fragte Anne Jahre später, „tut der dir immer noch leid und gibste dir selber die Schuld?“ „Ja und Nein“, sagte ich, „er tut mir leid, aber es ist sein Problem.“ Anne nickte zufrieden, wie eine Lehrerin, der eine etwas langsame Schülerin endlich die richtige Antwort gegeben hat.




BLENDUNG. “Im Netz des Grauens” (2010)

Ich sagte: „Vor dieser Person fürchte ich mich.“ Die Prinzessin schürzte die Lippen: „Warum sagst du ´Person´. Das klingt nicht nett.“ Ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Azar hatte wie immer richtig gehört. Meine Stimme offenbarte, was meine Wortwahl nur andeutete: Die Distanz, die ich zwischen mich und "die Person" bringen wollte. „Sie flirtet.“, sagte ich. Die Prinzessin lachte. „Das tust du natürlich nie.“ Ich seufzte. Für die Prinzessin war Flirten Notwendigkeit. Kein Flirt, kein Fun. „Melusine, worum geht es dir wirklich?“, fragte die Prinzessin. „Bist du eifersüchtig?“ Ich blies verächtlich Luft durch die gespitzten Lippen. „Ach nein, da stehst du ja drüber.“ Die Prinzessin schüttelte ungläubig den Kopf. Darüber hatten wir schon öfter gestritten. Für die Prinzessin war es unvorstellbar, verliebt, aber nicht eifersüchtig zu sein. Sie unterstellte mir die Absicht, mich unverletzlich zu machen. „Immer schön cool bleiben.“ Das hielt ich für Unfug. Es gibt keine uncoolere Person als mich. (Da haben wir´s: Wenn es mir passt, nenne ich mich selbst ´Person´. Ein Versuch, mich zu distanzieren. Auch diesmal. Von der, die ich auch bin.) Aber ich empfinde keine Eifersucht, nicht, wenn es um den Fall in die Liebe geht.

„Sie ist nicht echt.“, sagte ich. Die Prinzessin schüttelte sich vor Lachen. „Das von dir: Das Verlangen nach Echtheit. Wer hat sich darüber denn immer mokiert? In die Identitätsfalle getappt.“ Ich wurde kleinlaut. Sie hatte Recht. Und wieder nicht. Da war etwas, was ich nicht fassen konnte. Oder doch: „Sie hat keinen Körper.“ Das gab der Prinzessin den Rest; sie musste sich jetzt den Bauch halten vor Lachen.  „Eine Dame ohne Unterleib.“ „Ja.“ Ich blieb ernst. „Nein. Es ist nicht so. Ich meine. Sie spricht viel über ihren Körper.“ „Aber sie hat keinen, stimmt´s?  Wie denn auch? Ihr kennt euch doch nur übers Netz.“ Das stimmte. Die Prinzessin beobachtete meine Netzaffinität schon länger mit Misstrauen. Es schien ihr ein Ersatz zu sein für ungelebtes Leben. Körperlose und risikofreie Annäherungen. Nutzte ich das nicht selbst aus? Spiele ohne Berührungsangst? Aber... „Da ist etwas anderes. Kein Klangkörper. Verstehst du?“ „Nein.“ Die Prinzessin fuhr mit der Hand über die Tastatur ihres Computers. „Es klingt nicht, wenn ihr mit den Tasten klappert, oder wie?“ Ich seufzte. „Sie erzählt davon, wie sie angemacht wird. Zum Beispiel. Aber sie weiß gar nicht, wie es ist, angeschaut zu werden. Als Frau.“ Ich sah das Zucken um den Mund der Prinzessin. „Wie ich, meinst du?“ Ich beeilte mich, ihr zu widersprechen. „Nein, nicht wie du. Anders. Gar nicht wie du. Du spürst es. Sie hat es noch nie erlebt.“ „Was?“ „Es hat sie noch nie jemand so angeschaut.“ „Woher willst du das wissen?“ „Sie weiß nichts. Sie stellt es sich nur vor. Kopfgeburten. Sie denkt, sie hätte es im Griff.“ Die Prinzessin wiegte den Kopf. „Das denke ich auch, manchmal.“ „Es ist ein Gedankenspiel. Bei ihr. Bloß. Sie weiß nicht, was der Körper macht. Der eigene. Und der des anderen. Die Bewegungen, die du nicht kontrollieren kannst. Innen und Außen. Die Kontraktion deiner Bauchmuskeln. Das Zucken des kleinen Fingers. Oder die Verhärtung. Die Schultern zusammen ziehen.“ Die Prinzessin schwieg. „Niemand hat sie je begehrt, meinst du?“ „Ja.“ Ein tonloses ´Ja´. So hatte ich mir das noch nie überlegt. Aber so war es. „Niemand. Aber sie wünscht es sich. Verzweifelt. Sie inszeniert sich als eine Frau, die sie niemals war.“ Eine Pause entstand. Die Prinzessin tastete nach meiner Hand. „Das tun wir doch alle. Oder?“

Wir hielten uns an den Händen. „Ja.“ Diesmal tönte sie, meine Zustimmung, tief und voll. „Aber?“ Sie hatte wie immer genau hingehört. „Aber mit ihrem Körper stimmt etwas nicht.“ „Mit keinem Körper irgendeiner Frau stimmt es.“ Azar seufzte, ein wenig bitter. „Sie hat keinen. Eben deshalb. Weil sie so tut, als ob er richtig wäre. Blendend. Das gibt´s nicht. Nicht für eine Frau. Nicht jetzt. Nicht hier.“ Ich sah, wie die Prinzessin den Kopf reckte. Jetzt hatte ich sie. „Sie schämt sich nie?“ „Nein.“ „Sie findet sich nie zu dick, zu dünn, ihre Haare zu struppig, zu lockig, zu platt, ihre Nase zu groß, zu krumm, ihre Brüste zu üppig, zu klein?“ „Na ja, ich gäbe das auch nicht zu.“, sagte ich. „Nicht so plump. Nicht im Netz. Aber bei ihr ist nicht mal eine Andeutung davon.“ „Es muss“, sagte die Prinzessin, „etwas ganz Schreckliches sein.“ „Ja.“ Das war nur geflüstert. Grauenhafte Bilder drängten sich mir auf, entstellte Körper, zerfetzte Glieder, zerborstene Gesichter. „Ein Unfall. Eine Erkrankung.“ Die Prinzessin presste meine Hand.

„Melusine, du musst ihr schreiben.“ „Was? Dass ich nicht glaube, sie sei die schöne junge Frau, für die sie sich ausgibt?“ Sie schwieg. Lange. Die Prinzessin war redselig, normalerweise. Und sie wusste immer alles besser. Als ich. Doch jetzt schwieg die Prinzessin. Ich legte meinen Kopf in ihren Schoß. Sie fuhr mit der Hand über mein Gesicht. „Deine Nase ist gebogen wie ein Falkenschnabel. Hier ist eine Narbe, längst verheilt. Da wächst ein Muttermal über deiner Lippe und ein kleiner Damenbart.“ „Was?“ „Unsichtbar, Blondschopf. Nicht wie bei mir.“ Azarmidokth rasierte sich täglich. „Das kannst du ihr nicht schreiben. Sei rücksichtsvoll.“

„Die Person“, sagte ich, „macht mir Angst. Ich übe Rücksicht. Aber ich frage mich doch, wen ich schütze. Ein Monster? Eine Versehrte? Eine Frau, die....?“ Die Prinzessin unterbrach mich. „Ich habe dich noch nie gesehen. So wenig wie du sie. Wer weiß.“ „Es ist etwas anderes“, sagte ich. „Mit dir. Es ist etwas Unheimliches und Todtrauriges um sie. Und Böses. Eine, die sich verleugnet, so arg graut ihr vor sich selbst.“ „Mir graut auch manchmal. Vor dir.“ Sie lachte. „Du wirst ihr wehtun müssen. Am Ende. Selbst wenn du gar nichts tust.“ „Das werde ich“, antwortete ich. „Das Schlimmste ist: Es tut mir nicht leid. Ich habe kein Mitgefühl.“ „Weil du sie nicht kennst.“ „Wer kennt schon jemanden? Nein. Weil sie sich selbst hasst.“ Die Prinzessin beugte sich ganz dicht zu mir hinunter. „Das verstehe ich“, sagte sie. „Das verstehe ich vollkommen.“




HAPPY BIRTHDAY, KLEINER BRUDER! (1965)


Der Ton ist meistens ruppig. „Meine Schwester“, sagt er, „spinnt.“ Seine Schwester bin ich. Seine Schwester lästert über die Anwohner des Nobelviertels, in dem er wohnt. Seine Schwester hält BMW-Fahren für einen Charakterfehler. Seine Schwester, sagte er früher manchmal, sei  „tiefsinnig“, ein Ausdruck, den er als Synonym für „nicht ganz bei Trost“ gebraucht. Er war einmal ein kleiner Bruder, der eine große Schwester hatte. Das ist lange her. Sie hatte immer viel zu tun, seinetwegen und mit ihm. Mehr als einmal wurde ihr Name über die Lautsprechanlage der Schule ausgerufen, weil er sich bei irgendeiner Rangelei oder  im Sport die Hand, den Fuß, die Lippe verletzt hatte. Im Sanitätsraum sollte sie ihn abholen, grinsend saß er jedes Mal auf der Liege, kein bisschen schlechtes Gewissen, keine Scham. Ihr war das peinlich. „Und was hat dein Bruder dieses Mal angestellt?“, wurde sie in der Pause gefragt. Sie zuckte die Achseln. „Mein Bruder eben.“

Ich hatte mich sehr auf ihn gefreut. Es gehört in unserer Familie zu den am häufigsten erzählten Anekdoten, wie ich aufgeregt an der Mama vorbei in die Klinik gelaufen bin, weil sie ohne ihn die Treppe hinunter kam, um ihren kleinen Koffer ins Auto zu stellen, das der Opa dem Papa und mir geliehen hatte, um sie und den Bruder abzuholen. „Vergiss meinen Bruder nicht!“, soll ich geschrien und hektisch nach ihm gesucht haben, bis die Mama mich eingeholt hatte und mir sein Bettchen zeigte, wo er ganz gemütlich und pummelig schlief. „Natürlich nehmen wir ihn mit.“, soll sie mich beruhigt haben; aber den Henkel der Tragetasche, so wird erzählt, hätte ich nicht mehr losgelassen, bis er im Auto verstaut war. Ich kann mich nicht daran erinnern.

Manchmal bilde ich mir jedoch ein, dass ich mich an die 14 Tage erinnern kann, die die Mama in der Klinik war mit ihm nach der Geburt. Damals war das so, dass Frauen nicht nur für ein oder zwei Tage in die Geburtsklinik gingen, sondern ganze zwei Wochen. Wenn sie überhaupt in eine Geburtsklinik gingen, heißt das. Viele gebaren ihre Kinder zu Hause. Meine Eltern aber entschieden sich schon bei meiner Geburt für die moderne Entbindungsklinik statt für die Hebamme am Ort. Vielleicht wollten sie dieses Ereignis einfach für sich haben, fern von der vielköpfigen Verwandtschaft, die es sich in A. nicht hätten nehmen lassen, die Wöchnerin und das Neugeborene täglich zu besuchen, ihre Ratschläge an die Mutter und den Vater zu bringen und die Küche mit Selbstgebackenem und Eingemachtem voll zu stellen. Vor der Geburt meines Bruders, so habe ich es gehört, hatte es Streit gegeben zwischen meinen Eltern und den Großeltern, die mich für die zwei Wochen zu sich nehmen wollten. Aber der Papa bestand darauf, mich jeden Abend, wenn er von der Arbeit kam, bei denen abzuholen und mit mir Abendbrot zu essen. Den Großeltern erschien das unsinnig. Sie wollten, dass ich bei ihnen blieb und schlief. Der Papa könnte mich ja besuchen. Er setzte sich durch. Und ich, so glaube ich, habe die Abende mit dem dem Papa allein am Abendbrottisch in Erinnerung behalten, stolz auf dem Platz von der Mama sitzend und mich als „kleine Frau“ fühlend. Ich war drei Jahre alt. Deshalb ist es vielleicht trotzdem nur eine Einbildung.

Von einer Eifersucht auf den kleinen Bruder hat meine Mutter nie berichtet. Er war ruhig und mollig; ganz friedlich, sagt meine Mutter, als Säugling. „Trank viel und schlief viel. Ganz anders als du.“, lacht sie. Ich fand ihn sehr hübsch mit seinen dicken, roten Bäckchen und seinen braunen Kulleraugen, glaube ich, und schob gern den Kinderwagen durch den Brühl, um vor den anderen Kindern mit ihm anzugeben. Doch kann ich diesen Erinnerungen nicht trauen. Viele stützen sich auf Fotografien aus jener Zeit, die ich viele Male beim Blättern in den Alben angeschaut habe. Wer weiß, ob mein Gehirn nicht aus diesen Fotos kleine Filme entwickelt hat, ohne sich auf echte Erinnerungen stützen zu können?

Eine Erinnerung aber wirkt so lebendig auf mich, dass ich sie für echt halte. Auch gibt es von diesem Tag, den ich so deutlich vor mir sehe, keine Fotos. Mein kleiner Bruder sitzt im Sportwagen und wir laufen vom Optiker in der Kreisstadt zum Bahnhof zurück. Er trägt seine erste Brille und er guckt. Er guckt sich um mit riesigen, aufgerissenen Augen. Das alles hat er noch nie gesehen. Er sieht schlau und ein bisschen ulkig aus mit der dicken Brille. Ein Auge ist abgeklebt. Sein Mund steht offen, so arg staunt er und dann lacht er und klatscht in die Hände. Dass er alles so deutlich sehen kann, freut ihn und mich auch und es ist ein ganz toller Tag. Ich glaube, dass wir auch noch beide ein Eis gekriegt haben auf dem Weg zum Bahnhof.

Mein Bruder und ich sind drei Jahre auseinander und hatten keine gemeinsamen Freunde. Wir haben trotzdem viel zusammen gespielt, vor allen am Samstag- und Sonntagmorgen.* Wir haben uns ein Zimmer geteilt, bis ich zwölf war. Wir waren immer sehr verschieden. Ich bin trotzig, aufmüpfig und vergesslich. Mein Bruder ist diplomatisch, gelassen und ein wenig sentimental. (Wahrscheinlich erkennt er sich in diesen Zuschreibungen nicht wieder.) Ich habe oft mit dem Fuß aufgestampft. Mein Bruder hat verhandelt. Wir haben uns auch viel gestritten und gekämpft.

Ich hatte einen kleinen Bruder. Das ist lange her. Als wir klein waren, fühlte ich mich immer überlegen. Er war ein wenig trollig und eigenartig, schien mir, auch ein bisschen nervig und laut. Ich musste auf ihn aufpassen, wenn ich was Besseres zu tun hatte. Manchmal hätte ich ihn gern irgendwo vergessen oder so getan, als kenne ich ihn nicht: Wenn er laut mit seinen Kumpels als Cowboy durch die Gegend trampelte und mit Zündplättchenpistolen um sich schoss, wenn er einen auf Geschäftsmann machte und großspurig als Zehnjähriger im Viertel unter den Kindern Aktien für ein von ihm zu gründendes Unternehmen vertrieb oder wenn er mit siebzehn im Gasthaus zur Linde besoffen rumkrakelte. Mein Bruder kann gut mit allen Leuten, während ich oft unfreundlich oder abwesend bin. Als Kind, sagt meine Mutter, hat es mein Bruder mit mir nicht leicht gehabt. Denn ich war Klassenbeste, führte das große Wort, las Bücher in einem Nachmittag aus und konnte übers Wehr balancieren. Mein Bruder, sagt meine Mutter, habe mir immer nachgeeifert. Daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.

Mein Bruder ist kein kleiner Bruder mehr. Mein Bruder wird heute 45 Jahre alt. Er sieht in seiner schwarzen Richterrobe nicht mal verkleidet aus. Er spricht fließend Spanisch und Englisch. Er kocht auf höchstem Niveau in einem Team, das Preise gewinnt. Mein kleiner Bruder ist ganz schön groß geworden. Er ist Vater zweier Söhne (keine Enkeltöchter für unsere Eltern). Er ging mir oft auch die Nerven, als wir Kinder waren und hat auch heute noch ein Talent dafür.

Einmal, erinnere ich mich, da muss ich ungefähr acht gewesen sein, ging ich am Bach entlang von meiner besten Freundin nach Hause. Ich trödelte ein bisschen, wie ich es immer gern tat, balancierte über einen Baumstamm, ließ ein Stöckchen unter der Brücke durchschwimmen und hüpfte über die breiteste Stelle des Bachs von einem Ufer zum andern. Meine Freundin hatte einen wunderbaren Kaufladen aus Holz mit Theke und Registrierkasse, mit dem wir den ganzen Nachmittag gespielt hatten. Der Kaufladen war so groß, dass er niemals in das kleine Zimmer gepasst hätte, das ich mit meinem Bruder teilte. Meine Freundin war ein Einzelkind und sie hatte sogar zwei Zimmer: eines zum Spielen und eines zum Schlafen. Ich beneidete sie darum: um die beiden großen Zimmer ganz für sich allein, aber am allermeisten um den großen, bunten Kaufladen. Als ich jedoch über den Bach hüpfte an diesem Abend vor jetzt 40 Jahren war ich mir sicher, dass ich es doch besser getroffen hatte: „Aber ich“, dachte ich, „habe einen Bruder.“



O MEIN OPA (1974)

Wie er mich liebte, war ein Geschenk, mit dem eine nicht rechnen darf. Es war nichts selbstverständlich daran. Er hieß die Großmutter eine blaue Schürze in meiner Größe schneidern, die seiner glich, und hängte sie an einen Haken in seine Werkstatt. Er schimpfte mit mir, wenn ich die Kante nicht senkrecht hobelte. Er zeigte mir, wie man die Laubsäge richtig ansetzt. Am Sonntag putzte er mir die schwarzen Lackschuhe und bewunderte die rosa Schleifen in meinem Haar. Er hatte drei Enkel und eine Enkelin. Er fragte immer nach mir; ich stand nie außen vor. Er hob den Gregor auf seinen Schoß und ließ ihn zwischen seine Beine plumpsen. Holla!, dass der Gregor schrie. "Hoppe hoppe Reiter." "Und jetzt du!" "Mich kriegst du nicht dran." Ich petzte die Lippen zusammen und sah ihm fest in die Augen. Holla! Geschafft, nicht gekrischen!

An seiner Hand schlich ich durch den Hochwald zum Hochsitz hinauf, um das Rotwild zu belauschen. (Er hat nie ein Gewehr besessen.) Wir legten die Ohren an, wie er sagte, und schwiegen lang. Auf der Böschung käute der Hirsch. Die Kühe beugten ihre Hälse ins Gras. Später, auf dem Rückweg, pflückten wir Maiglöckchen, die seine Lieblingsblumen waren (und noch immer die meinen sind). Wir versenkten unsere Nasen in den sanften Duft der zierlichen, weiße Kelche. Wenn ich die Augen schließe und mich ganz auf meinen Atem konzentriere, kann ich diesen Geruch, so zart und frisch, jederzeit schnuppern.

Ohne ihn aber bin ich nie mehr gern früh aufgestanden.

Zum Frühstück vertilgte er riesige Mengen gebratenen Speck, von dem ich mir was abzupfte. Ich kletterte auf seinen Schoß, strich über seinen üppigen Bauch und sagte: "Opa, was bist du dick." Er lachte. "Wenn ihr nur nie mehr hungern müsst."

Er wünschte mich nicht als sein Ebenbild zu erschaffen und er suchte in mir keine Ergänzung. Er liebte mich, wie ich war, mit meinen blonden Locken und meinen zerschorften Knien, in meinen Frotteekleidchen und meinen Lederhosen. Er traute mir viel zu und war stolz auf mich wie Bolle, wenn ich den Nagel grade eingeschlagen hatte. Auf meinen Papa blieb er immer ein wenig eifersüchtig, wenn der mich abends abholte und "Hexlein!" rief. Er hat mich nie "wie einen Jungen" behandelt. Er hat mir niemals gesagt: "Das tut ein Mädchen nicht." Er war, was ich nie sein würde, und freute sich an dem Unterschied.

Was für eine Liebe soll das sein, die den anderen identisch machen will? Und was für eine, die nur liebt, worin sie sich selbst erkennt? Und was für eine, die die Andere nach ihrem Bilde formen will? Und was für eine erst, -  die keinen Unterschied kennt?

Er war verschlossen, nachtragend und stur. Wenn er verletzt wurde, zeigte er eine kalte Schulter. Er mochte sich nicht entschuldigen, wenn er einen Fehler gemacht hatte und wusste oft alles besser. Er schleppte seine Ängste, seine Wut und seine Trauer als wetterfest verpacktes Bündel mit sich herum und ließ keinen da ran. Er war dünnhäutig und kaltschnäuzig. Ich wusste nicht, was ich an ihm hatte, als ich ein Kind war. Dass Großväter gleichgültig sein können, abwesend, lieblos ahnte ich nicht. Später sah ich bei mancher Freundin den Vater wie einen Pensionsgast im eigenen Haus ein- und ausgehen. Oder ich lernte Tyrannen kennen, die von ihren Frauen und Kindern gehasst und betrogen wurden.

Er starb, bevor ich eine Frau wurde. Aber er hinterließ mir die Gewissheit, dass ich es sein konnte und gerade so, wie ich wollte. Auf seinem Sterbebett verlangte er, mich zu sehen. Sie hatten mir nicht die Wahrheit gesagt, weil der Tod für Kinder nichts ist, wie sie glaubten. Er ließ mich nicht im Zweifel, dass es mit ihm zu Ende ging. (Er nahm mir zuletzt noch ein Versprechen ab, dass ich gehalten habe.) Der sterbende Mann war schmal, wie ich ihn nie gekannt hatte und glich auf einmal wieder dem Mann auf den wenigen Fotografien, den Emma, die Mutter meiner Mutter, die schon so lange tot war, geliebt hatte. Ich kann mich nicht an alle seine Worte erinnern, aber daran, wie es roch in diesem Zimmer, so süß und säuerlich, wie nach ganz leicht verfaultem Obst, gemischt mit Seifengerüchen und dem Dampf von Kamillentee. Kein Hauch von Sägespäne. Er war schon fremd geworden, so eingebettet in die weißen Tücher und hochgeschichtet auf die dicken Kissen, damit er mir ins Gesicht sehen konnte. Ich saß auf der Kante und hielt seine Hand. "Ich sterbe", sagte er und "Ich will dir ´Adieu´ sagen." Ich glaube nicht, dass ich in diesem Moment verstand, was er meinte. Aber ich fühlte mich geliebt und geehrt, weil er mich hatte rufen lassen. Das war ihnen nicht recht gewesen, doch sie wagten es nicht, dem sterbenden Mann die Bitte abzuschlagen. Sie wollten uns Kinder vor dem Anblick des dahinsiechenden Mannes schützen, der unser Großvater war. Sie trauten uns nicht zu, die Wahrheit zu ertragen, die sie doch nicht würden ändern können.

Ich hatte sie in der Küche miteinander streiten hören, wie sie es machen sollten und wie lang das Kind allerhöchstens drin bleiben sollte. Seit Monaten, seit er in die Klinik gebracht worden war, wo wir ihn zwar besuchten, ich aber niemals mehr mit ihm allein sein konnte, wie früher in der Werkstatt oder im Stübchen, wenn wir zusammen Radio hörten, hatte ich ihn vermisst. Nachdem sie ihn zum Sterben nach Hause holten, war es mir nur einmal erlaubt worden, ins Krankenzimmer zu kommen. Fahl und schwach hatte er auf dem Kissen gelegen und mir nur sacht zugelächelt, als die Mama mich für einen kurzen Augenblick mit dem Gregor ins Zimmer geführt hatte. Doch nun mussten sie mich reinlassen zu ihm, weil er es forderte. Von der Großmutter, die mich zu ihm vorließ, verlangte er auch  noch: "Mach die Tür zu." und da mussten sie uns sogar allein lassen miteinander.

Ihre Befürchtungen wurden bestätigt. Als ich herauskam, sagte ich trotzig zu meiner Mutter: "Der Opa stirbt." Sie starrte mich entsetzt an und die Großmutter schrie: "Das sagt man nicht." Sie wussten es schon lang, aber sprachen es niemals aus. Ich fühlte: Er hatte mich sehen wollen, weil ich es ihm wert war. Die Wahrheit und den Abschied. Er zeigte mir ganz früh, wie es gut sein kann, anders zu sein. Und geliebt zu werden. Deshalb und sowieso. (Ich habe mir niemals selbst weh tun müssen.)

(Ich zögere bei diesem Text, weil er so kitschig ist. Soll ich davon schreiben, wie der Alte das Fett direkt vom Braten säbelte und sich in den Mund stopfte? Oder davon, dass er niemals den Teller abräumte oder ein Glas spülte? Oder darüber, wie er in der Hosenabteilung ganz nach hinten gehen musste, wo sie Beinkleider versteckten, groß wie Segeltücher, deren Hosenlatz er zu bekommen konnte? Was fügte das dem Bild hinzu? Er war ein großer Liebender.  Und ein einfacher Mann. Vielleicht kein schöner. Mir fiel das nicht auf, so lange ich ihn kannte.)